Der Tempel der vier Winde - 8
von ihm meine Aufwartung zu machen, Schwester Verna. Befindet sie sich hier?«
»Also, ich weiß nicht, ob ich –«
»Seine Exzellenz wird sehr ungehalten sein, wenn man mir nicht erlaubt, sie zu sehen, und sein Generalbevollmächtigter ihn davon in Kenntnis setzt, daß sein Anliegen auf so rüde Weise von einer Sklavin abgewiesen wurde. Ich bin selbst Sklavin im Dienste Seiner Exzellenz und muß Euch sagen, die Verantwortung dafür werde ich nicht übernehmen.«
Clarissa kam sich töricht vor bei diesen Worten, aber wie Nathan ihr versichert hatte, schienen sie Wunder zu wirken.
Schwester Amelias Blick heftete sich auf den goldenen Ring in Clarissas Unterlippe. Ihre Unschlüssigkeit schwand. »Natürlich. Bitte folgt mir. Das Buch wird jedenfalls hier aufbewahrt.«
Walsh, dessen Hand nahe am Heft seines Schwertes lag, neben sich, folgte Clarissa Schwester Amelia weiter ins Innere der bedrückenden Festung. Sie gingen einen langen Gang entlang, bogen dann ab. Clarissa paßte unterwegs genau auf, damit sie, für den Fall, daß sie schnell verschwinden mußten, nicht den falschen Weg einschlug und sich hier verirrte.
Vor einer Tür blieb Schwester Amelia stehen und sah Clarissa einen winzigen Augenblick lang an, bevor sie den Riegel anhob und sie hineinbat. Drinnen hielten sich ein Mann und eine Frau auf: Er saß an einem einfachen Brettertisch und las in einem Buch, das aufgeschlagen vor ihm lag, sie sah ihm dabei über die Schulter.
Die Frau blickte kurz auf. Sie war ein wenig älter als Clarissa und mit ihrem braunen lockigen Haar recht anziehend. Auf Clarissa machte sie den Eindruck, einst Autorität besessen zu haben, bevor man sie durch Erniedrigungen gebrochen hatte. Sie wirkte gequält. Ob es gefühlsmäßige oder körperliche Qualen waren, vermochte Clarissa nicht zu sagen.
Schwester Amelia streckte die Hand aus. »Das ist Verna.«
Verna richtete sich auf. Sie hatte einen Goldring in der Lippe, den gleichen wie Schwester Amelia, den gleichen wie Clarissa. Der Mann mit dem blonden, zerzausten Haar wandte sich nicht von seinem Buch ab. Er schien angestrengt in die Lektüre vertieft zu sein.
»Freut mich, Euch kennenzulernen«, sagte Clarissa.
Verna wandte sich wieder dem Mann und dem Buch zu.
Clarissa schob ihre Kapuze zurück und wandte sich an Schwester Amelia. »Das Buch.«
Diese verbeugte sich. »Natürlich. Gleich hier drüben.«
Sie eilte zu einem Regal. Der Raum war nicht groß. Vor einer der Steinquaderwände stand ein grob gezimmertes Regal mit Büchern. Es waren kaum einhundert. Nathan hatte gehofft, es wären sehr viel mehr. Nathan hatte allerdings erwartet, daß Jagang nicht viele seiner Beutestücke zusammen an ein und demselben Ort aufbewahrte.
Schwester Amelia zog einen Band aus dem Regal und legte ihn auf den Tisch. Allein die Berührung schien ihr unangenehm zu sein.
»Das ist es.«
Der Einband war, wie Nathan ihn ihr beschrieben hatte: in einem eigenartigen Schwarz gehalten, das das Licht im Raum aufzusaugen schien. Clarissa klappte den Deckel auf.
»Was tut Ihr da?« rief Schwester Amelia und trat näher heran.
Clarissa sah auf. »Man hat mir erklärt, wie ich mich davon überzeugen soll, daß es sich um das richtige Buch handelt. Bitte überlaßt das mir.«
Schwester Amelia trat händeringend zurück. »Natürlich. Aber ich kann Euch nur zu gut bestätigen, daß es sich um das richtige Buch handelt. Es ist das, mit dem Seine Exzellenz sich einverstanden erklärt hat.«
Vorsichtig blätterte Clarissa die erste Seite um, während Schwester Amelia sich nervös mit der Zunge über die Lippen fuhr. Verna verfolgte das Ganze aus den Augenwinkeln.
Clarissa griff in ihr Gewand und zog den kleinen Lederbeutel mit Pulver hervor, den Nathan ihr mitgegeben hatte. Sie streute es über die aufgeschlagene Seite. Worte wurden sichtbar:
Den Winden übergeben von Zauberer Ricker.
Es war das Buch, dessentwegen sie hergekommen war. Den Namen des Zauberers hatte Nathan nicht gewußt, er hatte ihr jedoch erklärt, dort werde ›Den Winden übergeben von‹ stehen, gefolgt von einem Namen. Sie klappte es zu.
»Schwester Amelia, würdet Ihr uns bitte einen Augenblick alleine lassen?«
Die Frau verbeugte sich und verließ eilig den Raum.
Verna runzelte die Stirn, während sie sich abermals aufrichtete. »Was hat das zu bedeuten?«
»Dürfte ich mir bitte Euren Ring ansehen?«
»Meinen Ring?«
Schließlich hielt Verna ihr seufzend die Hand hin und zeigte Clarissa den Ring an ihrem
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