Der Tempel
Brücke sprangen. Sie feuerten ihre Musketen auf uns ab und der Knall ihrer Waffen dröhnte wie Donnerschläge durch die Nacht.
Renco erwiderte das Feuer. Er handhabte seine Muskete wie der fronterfahrenste spanische Infanterist und schoss einen der Reiter aus dem Sattel. Die übrigen befreiten Inka liefen uns voraus und überwältigten zwei der anderen Reiter.
Der letzte Soldat brachte sein Ross herum, sodass es direkt vor mir stand. In einem einzigen Augenblick bemerkte ich, wie er erfasste, wer ich war – ein Europäer, der den Heiden half. Ich sah den Ärger in seinen Augen aufblitzen und dann, wie er sein Gewehr hob und auf mich richtete.
Da mir nichts anderes zur Verfügung stand, hob ich hastig meine Pistole und feuerte. Der Schuss dröhnte laut und ich würde auf die Bibel schwören, dass mir der Rückstoß fast den Arm aus dem Gelenk riss. Der Reiter vor mir fuhr ruckartig in seinem Sattel zurück und sank tot zu Boden.
Wie betäubt stand ich da, die Pistole in der Hand, und starrte wie hypnotisiert auf den toten Körper am Boden. Verzweifelt versuchte ich, mich davon zu überzeugen, dass ich nichts Falsches getan hatte. Er hätte mich getötet …
»Bruder!«, rief Renco auf einmal.
Sogleich drehte ich mich um und sah ihn auf einem der spanischen Pferde sitzen. »Komm!«, schrie er. »Nimm sein Pferd! Wir müssen nach Cusco!«
***
Cusco befindet sich am Kopfende eines langen, in nordsüdlicher Richtung verlaufenden Tals in den Bergen. Die befestigte Stadt liegt zwischen zwei parallelen Flussläufen, dem Huatanay und dem Tullumayo, die gewissermaßen als Burggräben dienen. Auf einem Hügel im Norden der Stadt thront wie ein Gott, der auf Cusco und das Tal hinabblickt, die steinerne Festung von Sacsayhuaman.
Sacsayhuaman ist ein Bau, wie ich ihn auf der ganzen Welt noch nie gesehen habe. Nichts in Spanien oder selbst in ganz Europa kann sich mit seiner Größe oder majestätischen Ausstrahlung messen.
Es ist wahrlich eine Schrecken erregende Zitadelle – etwa von der Form einer Pyramide, besteht sie aus drei kolossalen Rängen, von denen ein jeder leicht hundert Hände hoch ist und Mauern hat, die aus riesigen, hundert Tonnen schweren Blöcken gefertigt wurden.
Die Inka kennen keinen Mörtel, aber sie gleichen diesen Mangel mehr als genügend durch ihre außergewöhnliche Fähigkeit in der Kunst des Steinschneidens aus. Statt Steine mit Klebstoff zusammenzufügen, bauen sie ihre Festungen, Tempel und Paläste, indem sie gewaltige Steine in regelmäßige Formen schlagen und so aneinander reihen, dass jeder Stein genau in den anderen passt. Die Verbindungen zwischen den monumentalen Steinen sind so exakt und vollkommen, dass keine Messerklinge mehr dazwischenpasst.
In dieser Anlage fand die faszinierende Belagerung Cuscos statt.
Jetzt ist es an der Zeit zu sagen, dass diese Belagerung als eine der merkwürdigsten in der Geschichte der modernen Kriegsführung betrachtet werden muss. Ihre Besonderheit beruht auf folgender Tatsache: Während die Invasoren – meine Landsleute, Spanier – sich innerhalb der Stadtmauern aufhielten, hatten die Besitzer der Stadt, das Volk der Inka, außerhalb der Stadtmauern Stellung bezogen.
Mit anderen Worten, die Inka belagerten ihre eigene Stadt.
Um gerecht zu sein: Dies war das Ergebnis einer langen und komplizierten Kette von Ereignissen. 1533 ritten meine spanischen Landsleute unbehelligt in Cusco ein und waren, zunächst, freundlich zu den Inka. Erst als ihnen das volle Ausmaß des Reichtums innerhalb der Stadtmauern bewusst wurde, gaben sie jeglichen Anschein von Zivilisiertheit auf.
Meine Landsleute plünderten Cusco mit einer Wildheit, wie sie nie zuvor gesehen worden war. Einheimische Männer wurden versklavt, einheimische Frauen vergewaltigt. Unermessliche Mengen Gold wurden eingeschmolzen – woraufhin die Inka meine spanischen Landsleute »Goldesser« tauften. Offenbar führten sie deren Gier nach Gold auf das Bedürfnis zurück, es zu essen.
Im Jahre 1535 floh der Sapa Inka – Rencos Bruder, Manco Capac –, der bis dahin meinen Landsleuten gegenüber von versöhnlicher Natur gewesen war, aus der Hauptstadt in die Berge und versammelte eine gewaltige Armee, mit der er Cusco zurückgewinnen wollte.
Die Inkaarmee – 100000 Mann stark, bewaffnet jedoch lediglich mit Knüppeln, Keulen und Pfeilen – näherte sich Cusco in wilder Wut und nahm Sacsayhuaman, die gewaltige Steinzitadelle, die die Stadt überblickte, binnen eines Tages ein. Die
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