Der Tempel
und vielen anderen die Kehle von einer gewaltigen Kraft herausgerissen worden.
»Hernando?«, flüsterte ich Renco zu.
»Unmöglich«, erwiderte mein tapferer Gefährte. »Er kann nicht vor uns hier eingetroffen sein.«
Während wir weiter die Hauptstraße des Ortes entlanggingen, erblickte ich den riesigen, ausgetrockneten Graben, der das Dorf umgab. Zwei flache Bohlenbrücken – aus mehreren nebeneinander gelegten Holzstämmen errichtet – überspannten ihn zu beiden Seiten des Dorfes. Sie sahen aus wie die Brücken einer Festungsstadt, die jeden Augenblick eingezogen werden konnten. Ganz offensichtlich hatten Vilcafors Angreifer den Ort völlig überrascht.
Wir erreichten die Zitadelle. Es war ein großes Steingebäude in Pyramidenform, zweistufig, jedoch rund, nicht viereckig.
Renco hämmerte auf das große, steinerne Portal an ihrer Basis ein. Er rief Vilcafors Namen und sagte, dass er es sei, Renco, und das Götzenbild bei sich habe.
Nach einiger Zeit wurde die Steinplatte von innen beiseite geschoben und einige Krieger erschienen, gefolgt von Vilcafor persönlich, einem alten Mann mit grauem Haar und tief in den Höhlen liegenden Augen. Er war in einen roten Umhang gekleidet, wirkte allerdings ebenso königlich wie ein Bettler auf den Straßen Madrids.
»Renco!«, rief der alte Mann beim Anblick meines Gefährten aus.
»Onkel«, erwiderte Renco.
In diesem Moment fiel Vilcafors Blick auf mich.
Eigentlich hätte ich erwartet, dass ein Ausdruck der Überraschung über sein Gesicht glitte – ein Spanier , der seinen Neffen auf dessen heldenhafter Mission begleitete –, aber nichts dergleichen geschah. Vielmehr wandte Vilcafor sich an Renco und fragte: »Ist dies der Goldesser, von dem mir meine Kundschafter so viel berichtet haben? Derjenige, der dir zur Flucht aus deinem Gefängnis geholfen hat und an deiner Seite aus Cusco geritten ist?«
»Er ist es, Onkel«, entgegnete Renco.
Sie sprachen auf Quechua, aber dank Renco hatte sich meine oberflächliche Kenntnis dieser eigentümlichen Sprache wesentlich vertieft und ich war imstande, das meiste des Gesagten zu verstehen.
Vilcafor knurrte: »Ein edler Goldesser … hm … Mir war die Existenz eines solchen Lebewesens bisher nicht bekannt. Aber wenn er dein Freund ist, mein Neffe, so ist er hier willkommen.«
Das Oberhaupt drehte sich um. Nun erblickte er den Verbrecher Bassario, der hinter Renco stand und ein schelmisches Grinsen auf dem Gesicht hatte. Vilcafor erkannte ihn sogleich.
Er warf Renco einen wütenden Blick zu. »Was tut er hier …?«
»Er fährt mit mir, Onkel. Aus einem bestimmten Grund«, erwiderte Renco. Er hielt i nne, ehe er erneut das Wort ergriff. »Onkel – was ist hier geschehen? Waren es die Span…?«
»Nein, mein Neffe. Das waren nicht die Goldesser, sondern ein Übel, tausendmal schlimmer als jenes.«
»Was ist geschehen?«
Vilcafor neigte den Kopf. »Mein Neffe, hier bist du nicht sicher. Hier kannst du keine Zuflucht finden …«
» Warum nicht?«
»Nein … nein, ganz und gar nicht sicher.«
» Onkel«, sagte Renco scharf. »Was hast du getan?«
Vilcafor sah zu Renco auf, dann glitt sein Blick zu dem großen Felsplateau hinüber, das sich hoch über den kleinen Ort erhob.
»Neffe, rasch, komm in die Zitadelle. Bald wird die Nacht hereinbrechen und sie kommen mit der Dämmerung oder in der Dunkelheit heraus. Komm, in der Festung bist du sicher.«
»Onkel, was geht hier vor?«
»Es ist meine Schuld, Neffe. Es ist alles meine Schuld.«
Mit einem widerhallenden Donnern schloss sich die schwere Steintür hinter uns.
Im Innern war die zweistöckige Pyramide dunkel. Lediglich einige Handfackeln ergaben etwas Licht. Ich erblickte ein Dutzend erschrockener Gesichter in der Dunkelheit – Frauen, die Kinder auf dem Arm hielten, Männer mit Wunden oder Knochenbrüchen. Vermutlich zählten diese Glücklichen, die während des Gemetzels hier in der Zitadelle gewesen waren, alle zu Vilcafors Familie.
Außerdem fiel mir ein quadratisches Loch im Steinboden auf, aus dem alle paar Augenblicke Männer herauskamen oder in dem sie verschwanden. Dort unten war offenbar ein Tunnel.
»Das ist ein quenko «, flüsterte mir Bassario ins Ohr.
»Was ist das?«, wollte ich wissen.
»Ein Labyrinth. Ein Irrgarten. Ein Netzwerk aus Tunneln, die in den Felsen unter einer Stadt geschlagen wurden. Unweit Cuscos liegt ein sehr berühmtes quenko . Ursprünglich waren sie als Fluchttunnel für die herrschende Elite angelegt – nur
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