Der Teratologe (German Edition)
in uns. Und ich habe die Absicht, diese Macht für mich in Anspruch zu nehmen.«
»Wie zum Teufel meinen Sie das?« Westmore wurde jäh nüchtern, als ihm klar wurde, dass der Mann, den sie interviewen sollten, der Mann, der Hunderte von Millionen in weniger als einem Jahrzehnt mit finanziellen Transaktionen verdient hatte, möglicherweise völlig verrückt und durchgeknallt war.
»Ich dachte, Sie wären der Journalist, Mr. Bryant? Ihr Fotograf scheint die ganzen Fragen zu stellen.«
»Wie ich bereits erwähnte, ist er ein wenig betrunken.«
»Egal. Sie haben eine sehr gute Frage gestellt, Mr. Westmore, und sie verdient eine sehr gute Antwort. Ich habe vor, Gott gefangen zu nehmen.«
Jetzt war Westmore schlagartig völlig nüchtern. Gemeinsam mit Bryant starrte er den Milliardär mit ungläubig herabhängendem Unterkiefer an.
»Sehr faszinierend«, entgegnete Bryant.
»Faszinierend? Das ist lächerlich! Wie zur Hölle haben Sie vor, Gott einzufangen?«
Der Milliardär erhob sich von seinem Sitz und wandte den beiden Besuchern den Rücken zu.
»Wissen Sie, meine Herren, alles, was ich mir in meinem Leben vorgenommen habe, ist inzwischen erreicht, das meiste davon mit großer Leichtigkeit. Ich bin bei Ultramarathons mitgelaufen, habe 100-Meilen-Fahrradrennen und Triathlons gewonnen, bin auf Berge geklettert, habe Wüsten durchquert und Milliarden von Dollar verdient. Ich bin der totale Perfektionist, doch wenn Gott tatsächlich existiert, steht er mir als ultimativer Archetyp des Perfektionismus gegenüber. Der einzige Weg, um wirklich perfekt zu werden, wäre, wie Gott zu sein. Aber das entspräche einer Perfektion, die gleichermaßen absolut unvorstellbar ist. Wissen Sie, der Mensch kann das Konzept der Perfektion nicht wirklich erfassen. Uns fehlt der Bezugspunkt, um auch nur ihre Grundzüge nachzuvollziehen.«
Er nahm eine Bibel von einem Beistelltisch am anderen Ende der Couch und schleuderte sie in den Kamin, wo sie unverzüglich den Flammen zum Opfer fiel.
»Er ist nicht hier drin«, erklärte er.
Er griff sich ein Exemplar der jüdischen Thora und warf sie ebenfalls hinein, dann die Bhagavad Gita, den Koran, das Buch Mormon, den I Ging und das Daodejing. Sie alle wurden vom Feuer binnen Sekunden verschlungen.
»Er ist nicht hier drin. Nicht hier drin und auch nicht hier. Alles im Leben ist fehlerhaft und korrumpiert, und so bleibt Gott ein ewiges Rätsel. All unsere Versuche, sein Wesen in Literatur, Philosophie und Religion einzufangen, beschränken sich auf kindliche Fantasien und einen Aberglauben, der auf Ängsten und Verlangen basiert. Das gilt für alle Religionen der Menschheit.«
Die beiden Reporter starrten den jungen Milliardär an, während er wild gestikulierend über den polierten Marmorboden schlurfte.
»Es ist, als versuchte man, sich ein Bild oder eine Form zu vergegenwärtigen, die man noch nie zu Gesicht bekommen hat, und anschließend probiert, sie auf einer Leinwand nachzuempfinden. Man wird daran zwangsläufig scheitern.«
Bryant verstand plötzlich, worauf der Mann hinauswollte. »Aber wenn Sie einmal die Farbe gesehen haben. Ich meine, wenn Sie einmal Gott gesehen haben …«
»Tja, wenn ich erst ein wahres und exaktes Bild von Perfektion erblickt habe, von etwas gänzlich frei von Makel, dann verhält es sich wie mit allem anderen im Leben. Wenn ich es begreifen kann, kann ich es auch erreichen.«
»Okay, aber wie wollen Sie Gott dazu bringen, dass er sich Ihnen offenbart?«
»Das werde ich Ihnen später erklären, nicht jetzt. Ich werde Michaels anweisen, Ihnen Ihre Zimmer zu zeigen. Wir können das Thema beim Abendessen weiter diskutieren.«
»Aber unser Flug geht heute Abend«, warf Westmore ein, »und morgen ist bereits der Abgabetermin für meinen Artikel!«
»Ihr Abgabetermin wurde verlängert«, informierte Farrington ihn. »Ihre Pläne haben eine geringfügige Änderung erfahren. Sie werden für mehrere Tage zu Gast in meinem Haus sein. Es ist alles bereits mit Ihrem Chefredakteur abgeklärt.« Farrington ging davon, die Absätze klapperten auf den Bodenfliesen. »Rufen Sie ihn ruhig an, um sich das bestätigen zu lassen.« Mit diesen Worten verschwand er.
»Das ist doch eine völlige Scheiße.« Westmore brüllte fast. »Ruf das Büro mit deinem Handy an.«
»Bin schon dabei, bin schon dabei.« Bryant tippte die Nummer auf dem Tastenfeld ein und wartete dann. »Und ich gebe zu, das ist wirklich eine verdammt schräge Geschichte.«
»Schräg? Das ist das
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