Der Teufel in Frankreich
tun hätte, sondern eben mit einem System, kam dagegen auf.
Ich versuchte mich abzulenken. Ich veranstaltete in meinem Innern Spiele mit mir selber, bemühte mich, lateinische, griechische, hebräische Verse in deutsche umzuschmieden, trieb das, was eine frühere Generation »Übungen des Witzes und Verstandes« genannt hatte. Suchte etwa herauszubekommen, wann ich dies oder jenes zum letzten Mal getan hätte. Ich bin sechsundfünfzig Jahre alt, und schon bevor ich interniert wurde, hatte ich mich zuweilen gefragt: Ist es jetzt wohl das letzte Mal, daß du dies oder jenes tust? Wenn ich ein Buch las, das ich liebe, dann fragte ich mich: Ist es jetzt wohl das letzte Mal, daß du dieses Buch liest? Und so geschah es mir mit Bildern, die ich sah, mit Anzügen, die ich wieder einmal hervorsuchte, mit Musikstücken, die ich hörte, mit Menschen, denen ich begegnete. Im Grunde nimmt man jeden Tag von irgend etwas Abschied, ohne es zu wissen.
Jetzt, in diesen schlaflosen Nächten im Stroh und Dreck von Les Milles, fragte ich mich: Wann hast du zum letzten Mal im Meer gebadet? Wann warst du mit der und jener Frau zum letzten Mal zusammen? Wann hast du zum letzten Mal Shakespeare gelesen?
Ein Lagerkamerad hatte mir erzählt, er habe eines meiner Stücke spielen sehen, da und dort, dann und dann, es war vor langer Zeit. Allein er wußte noch genau Bescheid über die Handlung, und er fragte mich beflissen über gewisse Einzelheiten. Ich aber konnte ihm keine Auskunft geben, ich wußte von dem Stück viel weniger als er, insbesondere die Handlungsfolge hatte ich völlig vergessen. Das beschäftigte mich, und in jenen schlaflosen Nächten machte ich viele Proben, wieweit mein Gedächtnis noch verlässig sei.
Ich habe in meiner Jugend viel auswendig lernen müssen, Nützliches und sehr viel Unnützes, mein Gedächtnis war auf jede Art trainiert. Als ich jetzt nachprüfte, erkannte ich deutlicher als jemals früher, wie überaus willkürlich dieses mein Gedächtnis funktionierte. Es weigerte sich mit erschreckender Beharrlichkeit, mir wichtige Dinge mitzuteilen, die ich doch genau »wußte«, während es mir ungeheißen und vordringlich Dinge vorplapperte, die ich gar nicht wissen wollte.
Zeitlebens bin ich nicht herausgekommen aus der Verwunderung über dieses Phänomen Gedächtnis, die seltsamste Funktion des menschlichen Geistes. Während ich mich – und das geht wohl jedem ähnlich – an Begegnungen mit gleichgültigen Menschen so genau erinnern kann, daß ich jedes winzigste Detail anzugeben vermag, sind mir Gesichter, die mir lieb waren, vollkommen entschwunden. Keine noch so gründliche psychische Analyse erklärt das Wieso und Warum.
In diesen schlaflosen Nächten von Les Milles schien
mir mein Gedächtnis besonders willkürlich. Alle im Lager hatten wir die Erfahrung machen müssen, daß sich unser Gedächtnis verschlechterte. Wir führten es zurück auf das Brom, das man unserm Essen beimischte, um unsre sexuellen Regungen zu dämpfen.
Früher, in ruhigen Zeiten, hatte es mich eher amüsiert, wenn zuweilen mein Gedächtnis versagte. Jetzt, in diesen bösen Nächten, geriet ich darüber in ohnmächtige Wut. Daß es keine Bücher gab, keine Nachschlagewerke, mit deren Hilfe man die Lücken des versagenden Gedächtnisses hätte ausfüllen können, daß man auf das Zufallswissen der Kameraden angewiesen war, vor allem auf das des österreichischen Polyhistors, mehrte meinen hilflosen Zorn.
Es war erstaunlich, wie schnell wir alle uns den Bedingungen des Lagers anpaßten. So hart für viele der Übergang von ihrem gewohnten Leben zu der Primitivität von Les Milles war, schon nach wenigen Tagen benahmen sie sich im Lager so, als wären sie hier seit Jahren.
Alle stumpften wir ab. Leiden und Erniedrigungen, eigene und die unsrer Kameraden, die uns kurz vorher noch empört hätten, nahmen wir resigniert, mit Achselzucken hin, schließlich gewahrten wir sie nicht mehr.
Auch in den Konzentrationslagern der Nazis ist das so gewesen. Es waren unter uns viele, die diese Konzentrationslager hatten kennenlernen müssen, vor allem die Lager von Dachau und Buchenwald. Sie waren, so erzählten sie mir übereinstimmend, so oft gezwungen worden, Exekutionen beizuwohnen, der Verabreichung von Prügelstrafen und dergleichen, daß der Anblick dieser Scheußlichkeiten schließlich überhaupt keinen Eindruck mehr auf sie machte. Sie hatten während dieser Exekutionen die kleinen Geschäfte ihres Alltags besprochen, ja, sie hatten
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