Der Teufel in Frankreich
Strapazen des Exils gesundheitlich heruntergekommen. Werden sie die Anstrengungen einer Internierung überstehen? Und was wurde aus den Kindern? Soldaten berichteten, in der Stadt Marseille seien auch die Kinder eingesperrt worden. Sie seien zusammen mit den Müttern in einem von seinem Besitzer aufgelassenen Vorstadthotel untergebracht, um in die Pyrenäen abtransportiert zu werden.
Da war einer im Lager, der hatte ein zuckerkrankes Kind. Wenn das Kind nicht auf eine bestimmte Art gepflegt wurde, war es verloren. Der Mann, ein Apotheker, hatte ein Grauen vor französischen Hospitälern, er erzählte scheußliche Erlebnisse von Schmutz und Schlamperei. Er war fast sinnlos vor Angst um sein Kind. Wenn seine Frau die Krankheit des Kindes verheimlichte, um nicht von ihm getrennt zu werden, dann verlor sie die Möglichkeit, es richtig zu verpflegen. Wurde das Kind aber ins Hospital gebracht, dann, das nahm der Mann mit Sicherheit an, war es erst recht verloren.
Besser hatten es jene unter uns, die mit Französinnen verheiratet waren. Nicht nur waren diese Frauen nicht eingesperrt, sie waren auch nicht den zahllosen, peinlichen Sonderbestimmungen unterworfen wie die Frauen der übrigen, sie durften reisen, sie konnten versuchen, ihre Männer zu sehen. Die Männer konnten die Treue und Anhänglichkeit dieser ihrer französischen Frauen nicht genug rühmen, sie rechneten darauf, daß diese Frauen alles daransetzen würden, mit ihnen Verbindung zu bekommen. Das taten sie denn auch. Sie kamen nach Les Milles, von weither kamen sie, fast alle kamen sie. Aber Besuche waren nun einmal verboten, und den Wachen waren so strenge Strafen angedroht, daß sie nicht wagten, eine Zusammenkunft der Frauen mit ihren Männern zu ermöglichen.
Da standen denn die Frauen, oft nach beschwer
lichen Reisen, vor den Gittern und vor dem Stacheldraht, sie gingen auf der heißen, staubigen Landstraße auf und ab, stundenlang, tagelang, um vielleicht für eine halbe Minute das Gesicht des Mannes zu erspähen. Manchmal wurden sie von einem Offizier des Lagers empfangen, manchmal wurde eine Botschaft übermittelt, wenn sie zur Genüge zensuriert und als harmlos befunden worden war. Sehr oft, viermal, fünfmal des Tages, hörte man jemand eilig, wichtig rufen: »X., Ihre Frau ist da.« Dann versuchte wohl X. von einem Fenster aus die Frau zu erspähen, oder er stellte sich auf hochgestapelte, immer wieder einstürzende Ziegelsteine, um über die Mauer zu schauen, oder er ließ sich von andern hochheben. Das geschah in einer Entfernung von etwa dreißig Metern von der Mauer, und wenn er die Frau und die Frau ihn glücklich erspähte, dann schrie er ihr etwas zu und sie verstand nicht und er schrie noch einmal und sie schrie zurück, und dann kamen die Wachen und jagten die Frau fort, und sie jagten den Mann vom Hof, es war ein jämmerliches Schauspiel.
Einmal schmuggelte ein gutmütiger Wachsoldat das fünfjährige Kind einer solchen französischen Frau her ein zum Vater ins Lager. Der Vater war ein in Marseille sehr angesehener Mann, jetzt lief er verschmutzt und zerlumpt herum wie wir alle. Der sehr hübsch und sauber angezogene Junge war erstaunt. Er bat den Vater, doch endlich wieder nach Hause zu kommen; auch die Mutter warte draußen auf der Straße. Der Vater erfand eine gequälte Geschichte, er sei hier Offizier und müsse uns beaufsichtigen. Wir andern spielten mit und erwiesen dem Vater allerlei Ehrenbezeigungen. Das Kind war halbwegs getröstet.
Ich habe schon gesprochen von der Schamlosigkeit, mit der wohl oder übel alle Funktionen des Körpers in größter Öffentlichkeit vorgenommen wurden. Diese erzwungene Schamlosigkeit des Körpers mochte mit dazu beitragen, daß viele nun auch ihre Seele entblößten. Schon in ruhigen Zeiten lassen sich viele vor dem Schriftsteller gehen, sie sehen in ihm eine Art Beichtvater, sie bekennen ihm gern ihre geheimen Nöte und Hoffnungen, ihren heimlichen Stolz und ihr verborgenes Minderwertigkeitsgefühl. Im Konzentrationslager überhäuften sie mich mit Konfessionen jeder Art, auch der intimsten, sie übertrieben gern in der Schilderung ihrer Erlebnisse, sie machten sich besser, als sie waren, und schlechter, als sie waren, und verzerrten manches ins Absurde.
Noch eine andere Eigenschaft entwickelte der Aufenthalt im Lager in vielen, eine übergroße Reizbarkeit. Da man so dicht und ständig aufeinander hockte, gab es ununterbrochen Reibungen. Wer heute Freund war, wurde morgen zum Feind. Immerzu
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