Der Teufel in Frankreich
ruhige, wohlbestallte Herren, die den größten Teil des Tages mit Überlegungen verbrachten, wie sie sich am besten schmackhaft, reichlich und billig nähren könnten. Sie ergingen sich in langen Erinnerungen an verschiedene Gerichte der verschiedenen deutschen Gegenden, und manchmal kam es zu Meinungsverschiedenheiten darüber, wie und wo das oder jenes Gericht am schmackhaftesten zubereitet worden sei.
Unvergeßliche Insassen unsres Zeltes waren dann zwei Kantoren aus der Stadt Berlin. Sie waren beide gute, ja berühmte Kantoren gewesen, angestellt von großen Berliner Synagogengemeinden. Sie waren sehr verschieden von Art, und wiewohl eigentlich einer kaum ohne den andern auskommen konnte, lebten sie in ununterbrochener Fehde, einer Fehde, die von Herrn Cohn und dem schmutzigen Anwalt L. tückisch gestachelt wurde.
Der eine Kantor war mürrisch. Er hielt immer den Kopf wie zum Angriff gesenkt, sein Schicksal zehrte an ihm, er fühlte sich als entthronter Fürst. Der andre war ein betulicher, betriebsamer Herr, der sein Leben noch keineswegs als abgeschlossen betrachtete. Er suchte selbst vom Lager aus Verbindung anzuknüpfen mit südfranzösischen Synagogengemeinden, in denen er allenfalls als Kantor tätig sein könnte, zumindest als Aushilfs- und Ergänzungskantor an den hohen Feiertagen, wiewohl eine solche Betätigung, maß man sie an seiner Berliner Stellung, ein furchtbarer Abstieg gewesen wäre. Nichts konnte ihm seine Zuversicht und seine Vitalität rauben, auch nicht eine böse Erfahrung, die er gerade jetzt hatte machen müssen. Er hatte Gepäck, letzte Teile seines Besitzes, im Bahnhof von Nîmes untergestellt, und einer der Fremdenlegionäre hatte versprochen, ihm daraus einen dringlich benötigten Koffer herauf ins Lager zu schaffen. Der Kantor hatte dem Legionär zu diesem Zweck den Gepäckschein ausgehändigt; doch der Legionär hatte, wie es schien, die ganze letzte Habe des Kantors für seine eigene Tasche verkauft. Jetzt machte er allerlei Ausreden, jedenfalls kam der vertrauensselige Kantor nicht in den Besitz seines Koffers. Er gab aber seine Sache noch lange nicht auf. Er war nicht dumm, er sah ein, daß er sich durch eine Anzeige bei der Lagerleitung oder bei der Polizei zwar Rache an dem Legionär, aber kaum seine Sachen hätte beschaffen können. Er zog es vor, weiter freundliche Beziehungen zu dem Legionär zu unterhalten. Niemals verdächtigte er ihn, er stellte sich vielmehr, als glaube er ihm alles, überlegte mit ihm immer wieder, was man denn tun könne, damit die Sachen endlich herausgegeben und heraufgeschafft würden, bot ihm kleine Be träge an, angeblich zur Bestechung der Beamten, damit sie das Gepäck endlich freigäben, in Wahrheit natürlich als Lösegeld für das von dem Legionär gestohlene und zurückgehaltene Gepäck. Niemals zweifelte er daran, daß er es wiederbekommen werde.
Beide Kantoren erzählten gern von ihrer Berliner Vergangenheit. Sie hatten gute Gehälter bezogen und überdies aus der Mitwirkung bei Hochzeiten, Beerdigungsfeierlichkeiten und dergleichen reichliche Nebeneinnahmen gehabt. Prahlerisch schilderten sie, wieviel sie da und dort verdient hätten, sie überboten einander und zweifelten jeder die Angaben des andern an. Herr Cohn und der schmutzige Anwalt nahmen an diesen Debatten eifrig teil und stachelten tückisch den Kampf der beiden Sänger.
Ich verweile gern bei der Darstellung der grotesken Erlebnisse im Zeltlager von Nîmes. Während der ganzen Zeit, die ich dort verbrachte, richtete ich mein Augenmerk mehr auf die grotesken Details als auf die bittere Gesamtsituation. Wäre ich nicht immer bemüht gewesen, das Groteske meiner eigenen Lage und der Lage der andern wahrzunehmen, dann hätte ich schwerlich jenes trübe, erniedrigende Dasein ohne innere Schäden überstanden.
Das Zeltlager von Nîmes nämlich, so bunt und lieblich es hersah, war kein angenehmer Aufenthalt. Es war, glauben Sie es mir, Leser, schauerlich.
Es gab keine Ordnung. Es gab keine Instanz, bei der man eine Klage, eine Bitte hätte anbringen können. Alles verkam in Schmutz und Schlamperei. Hilflos war man dem Dreck und der Indolenz ausgeliefert. Man lebte nicht im Lager von Nîmes, man vegetierte. Man sehnte sich nach dem Tod. Man ertrug das Dasein im Lager lediglich, weil man sich immer wieder vorsagte, man dürfe nicht nachgeben, man müsse diese Periode überleben. Einmal werde man wieder herauskommen, einmal werde man wieder ein menschenwürdiges Leben
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