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Der Teufel in Frankreich

Der Teufel in Frankreich

Titel: Der Teufel in Frankreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lion Feuchtwanger
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der von dem Anwalt zu sagen pflegte, mit seinen Zähnen grabe er sich sein Grab. Dabei war dieser Herr selber reichlich gefräßig. Er war ein weiland Richter des höchsten Berliner Gerichtshofes, ein etwas wehleidiger Herr, von zimperlichen Sitten, verwöhnt, nicht recht begreifend, daß er hier in diesem Zelt nicht Mitglied eines Gerichtshofes war. Der Anwalt und Herr Cohn zogen den alten Herrn gerne und grausam auf. Er hatte dann eine merkwürdig indignierte, neckische, altjüngferliche Art, die Angriffe abzuwehren. Zuweilen wurden die Späße recht plump. »Wer stinkt denn heute wieder so?« begann etwa Herr Cohn. »Ich bin es heute nicht«, erklärte der Anwalt. »Es ist bestimmt der Kammergerichtsrat, ich hab es schon die ganze Nacht gerochen. Hören Sie«, wandte er sich geradezu an den armen alten Richter, »das muß anders werden. Sie sind in diesem Zelt nicht allein.« – »Ich stinke nicht, ich habe auch nicht gestunken«, erklärte spitz und würdig der alte Richter. »Sagen Sie, Herr V.«, wandte er sich an seinen Nachbarn im Stroh, einen ältern Kantor aus Berlin, »haben Sie etwas gerochen?« – »Ich habe geschlafen«, wich diplomatisch der Kantor aus.
    Ich persönlich hatte für den alten Richter viel übrig. Er war gebildet, er hatte sein humanistisches Gymnasium mit Liebe absolviert, er hatte noch alles im Kopf, was er damals gelernt hatte, und er hatte seine Freude daran, es zu zeigen. Mit gerührter Verwunderung nahm ich wahr, daß er auf die gleiche Art »humanistisch« erzogen worden war wie ich. Bei ihm indes hatte jene humanistische Erziehung ihr Ziel vollkommen erreicht. Sie hatte ihn gänzlich eingekrustet, ihn abgesperrt von der übrigen Welt. Sein Geist hatte genau die Form angenommen, welche seine Erzieher ihm hatten geben wollen. Er hatte gelernt, was er hatte lernen sollen, und die ganzen wilden Ereignisse der Folgezeit hatten nicht vermocht, ihn etwas zuzulehren. Er glaubte an den Humanismus der klassischen deutschen Epoche, wie er ihm beigebracht worden war und wie er sich spiegelte in den Gedichten aus der idealistischen Periode Schillers.
    Ich versuchte, mich hineinzuversetzen in die Seelen jener, die sich vor diesem Richter zu verantworten gehabt hatten. Er war bestimmt ein ausgezeichneter Jurist, doch wie sollte er sich mit seinen Angeklagten und wie sollten sie sich mit ihm verständigen? Es war keine Brücke von ihm zu ihnen. Es war nicht einmal eine Brücke von ihm zu mir; denn diesem sehr gebildeten Manne waren Sigmund Freud und Karl Marx leere Namen, er hatte niemals ein Buch von ihnen gelesen.
    Er liebte es leidenschaftlich, zu zitieren. Er hatte lange Strecken auswendig lernen müssen aus den Gedichten und Stücken deutscher und antiker Klassiker, er konnte wie ich, auch gewisse, sehr abgelegene Gedichte auswendig, und was dem einen von uns fehlte, konnte der andre ergänzen.
    Es wurde überhaupt viel zitiert im Lager. Ich fragte oft, worin wohl diese Passion, die langsam zur Manie wurde, begründet gewesen sein mag. Vielleicht wollte man sich, da man sonst so wenig oder nichts hatte, wärmen an dem Gefühl, gebildet zu sein. Vielleicht wollte man das erworbene Wissen immer wieder auffrischen, um es nicht völlig zu vergessen. Vielleicht war es einfach Gelehrsamkeitsdünkel. Man sah einander so gleich, man lebte unter genau den gleichen Bedingungen; so wollte man sich und den andern auf diese Art beweisen, daß man trotzdem etwas Besseres sei.
    Manchmal kam bei dieser Zitiererei etwas ganz Amüsantes heraus; nur wurde durch häufige Wiederholung des gleichen spaßhaften Zitates der Spaß bald lau und abgestanden. Ich habe schon erzählt, daß wir gelegentlich in den Versammlungen in den Katakomben von Les Milles von Offizieren überrascht wurden und daß wir dann als Vorwand angaben, wir seien auf dem Weg zum Abort. Nun lautet der Text des Schmugglerchors in »Carmen«: »Ein falscher Tritt zum Abgrund führt«, und einmal, bei einer solchen Gelegenheit, variierte ihn einer: »Ein falscher Grund zum Abtritt führt.« Das war ganz lustig. Doch als es das fünfundzwanzigste Mal geschah, wirkte es nicht mehr komisch.
    Es wäre verlockend, hier einige Anmerkungen zu machen über den Gebrauch von Zitaten und die Lust am Zitieren, wie sie vor allem unter Deutschen und unter Juden üblich ist und wie sie also unter den deutschen Juden der Konzentrationslager besonders wild grassierte. Aber ich will bei meinem Zelt bleiben und seinen Bewohnern.
    Da waren noch zwei Kaufleute,

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