Der Teufel in Frankreich
führen.
Allein da gab es Leute – und das war vielleicht unter allem Erbärmlichen, was ich in jenem Zeltlager erlebte, das Erbärmlichste –, da gab es unter uns Leute, die nur eine Furcht kannten: das Zeltlager könnte aufgelöst, sie könnten entlassen werden. Ja, es gab unter uns Menschen, und nicht einmal wenige, die sich fürchteten vor dem Augenblick der Entlassung. So elend die Zelte von Nîmes waren, man hatte etwas wie ein Dach über sich. So eintönig und wenig schmackhaft das Futter von Nîmes war, es war doch Futter, man konnte es schlingen, man konnte es schlucken. Wenn sie aber das nicht mehr hatten, das Lager von Nîmes, dann hatten sie gar nichts, dann hatten sie kein Geld, keinen Anspruch, nichts, nichts, nichts. Wenn sie aus dem Lager ausgestoßen sein werden, dann stehen sie, diese ganz Armen, im Freien, im Leeren, mit nichts als ein paar Lumpen auf dem Leib, Fremde, Feinde in einem Land, das, besiegt, den eigenen Söhnen kaum dasjenige bieten kann, was unentbehrlich ist zur Fristung des nackten Lebens.
Entschuldigen Sie diesen Ausbruch, Leser. Ich spreche Ihnen sogleich von Erfreulicherem. Ich berichte Ihnen von Bernhard Wolf, dem angenehmsten unter den Insassen unseres Zeltes.
Wenn Herr Cohn dem Namen nach »Gruppenführer« war, so war er, Herr Wolf, der eigentliche Chef unsrer kleinen Gemeinschaft. Er war ein dicklicher Herr von etwas über sechzig Jahren mit einem schweren, gutmütigen, jüdischen Gesicht. Bücherwissen besaß er nicht viel, wohl aber ein gutes Hirn, ein gutes Herz, gesunden Menschenverstand, gesunde Skepsis. Ihm eignete Urteil, Schlauheit, Güte. Wieso eigentlich: eignete? Er hat das alles heute noch.
Herr Wolf war der Älteste unter ziemlich vielen Geschwistern, die sich aus kleinen Anfängen zu ansehn lichem Wohlstand heraufgearbeitet hatten. In unserm Lager war noch ein zweiter von den Brüdern. Sie fanden sich beide ziemlich souverän mit ihrer Lage ab. Sie hatten manches Böse überstanden, sie rechneten damit, auch aus dieser Situation herauszukommen, vielleicht mit Narben, doch mit heiler Haut.
Herr Wolf besaß Fabriken und ein Landgut in der Nähe von Marseille. Er hatte viele Angestellte, und die Gewohnheit, mit Menschen umzugehen, hatte ihn zu einem guten Menschenkenner gemacht. Man hörte auf ihn, ohne daß er die Stimme hätte heben müssen. Die Fabriken, das Landgut und die Angestellten hat er nicht mehr; aber noch hat er Ruhe, Geduld, Autorität.
Herr Wolf und ich hielten vom ersten Augenblick an gute Kameradschaft. Herr Wolf ist praktischer als ich, er hat mir in vielen kleinen Dingen mit Rat und Tat beigestanden, auch in einer recht schweren Lage, von der ich bald zu berichten haben werde. Andernteils gab es einiges, worin ich ihm wirksam helfen konnte. Ich denke, wir haben uns beide in guter Erinnerung.
Herr Wolf ist ein Lebenskünstler. Er strebt nicht Unmögliches an, aber er holt aus jeder Lage das Bestmögliche heraus. Er verbesserte zum Beispiel unsre Unterkunft. Er ließ von einem Internierten, der sich darauf verstand, vor unserm Zelt einen primitiven Tisch zimmern und so etwas wie eine Bank. Da konnten wir im Schutz eines Baumes bequem halb im Schatten, halb in der Sonne sitzen und essen. Auch ließ Herr Wolf für sich und mich aus ein paar Pflöcken so etwas wie Bettstellen zimmern. Sie waren sehr niedrig, sonst hätte die Zeltwand das Gesicht ganz bedeckt und wund gerieben. Immerhin war jetzt ein bißchen leerer Raum zwischen unserm Stroh und dem kalten, feuchten Erdboden. Großartig war Herr Wolf in der Beischaffung von Nahrungsmitteln, unsere Mahlzeiten wurden schmackhaft und abwechslungsreich.
Das Lager hatte sich verändert in den paar Tagen, die ich in der Stadt Nîmes zugebracht hatte. Es war jetzt ein einziger, großer Rummelplatz. Cafés, Verkaufsbuden, eine neben der andern, säumten die Straßen der Zeltstadt. Hausierer zogen durch diese Straßen von fünf Uhr morgens bis ein Uhr nachts und schrien ihre Waren aus: »Die verbotene Kondensmilch, nirgends in Frankreich mehr zu haben, nur hier bei mir.« – »In zehn Minuten bei Zelt 54 gebackenes Huhn mit frischem Gurkensalat und Tomaten.« – »Drei Füllfederhalter, so gut wie neu, zu unerhört niedrigen Preisen.« – »Die neuesten Pariser Zeitungen, eingeschmuggelte Schweizer Zeitungen.« – »Braune Lederschuhe, die letzten, sehr solid, geeignet für Märsche durch ganz Frankreich bis über die Grenze.« – »Ausgezeichnet nachgemachter polnischer Paß, geeignet für
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