Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
über dem Vorsprung, auf dem Erik lag. Der Riss reichte bis hinauf bis zu der Stelle, an der er abgestürzt war. Dann heulte eine Windböe durch die Spalte, und der Riss begann hin und her zu schwingen. Nur langsam registrierte Erik, dass es sich nicht um einen Riss im Eis, sondern um ein Seil handelte.
Schließlich gelang es ihm, sich aufzusetzen. Ein Reißen ertönte, als sein festgefrorener Mantel sich vom Eis löste. Das Seil baumelte über den Grabenrand und reichte bis auf den Vorsprung hinunter. Der Gegenstand, der Erik im Gesicht getroffen hatte, war das verknotete Ende des Seils. Er streckte die behandschuhte Hand danach aus, aber sie war völlig gefühllos. Es gelang ihm nicht, das Seil zu greifen.
„Hallo?“, wollte er rufen, doch aus seinem Hals zwängte sich nur ein Flüstern. Er hustete. Dann holte er tief Luft.
„Hallo!“, rief er, und diesmal war seine Stimme laut genug, um von den Wänden der Spalte zurückgeworfen zu werden. „Wrede! Sind Sie das?“
Er lauschte auf eine Antwort, aber über ihm blieb es still. „Xaver!“ Seine Stimme überschlug sich. Seine Augen suchten verzweifelt den Rand des Grabens ab. „Helfen Sie mir!“
Der dunkle Umriss eines Mannes erschien über der Kante der Spalte. Die Sonne strahlte so hell, das Eis leuchtete so grell, dass Erik nur einen schwarzen Schemen ausmachen konnte. Die Gestalt verharrte einige Sekunden und schien auf ihn hinunter zu blicken. Dann zog sie sich zurück und war im nächsten Moment verschwunden.
„Nein!“, schrie Erik. „Gehen Sie nicht! Helfen Sie mir!“
Er versuchte aufzustehen, aber seine Beine gehorchten ihm nicht. Er saß schwer atmend im Schnee und rang nach Luft. Dann versuchte er es noch einmal. Trotz der Kälte lief ihm Schweiß über die Stirn und sammelte sich in seinen Augenbrauen. Ein Windstoß fuhr in den Graben, und sein Rauschen klang wie Gelächter in Eriks Ohren.
Sieh dich an, du Narr , sagte die Stimme seines Vaters. Du wirst hier unten verrecken. Hier im Inneren des Gletschers.
Erik verzog den Mund zu einem wölfischen Grinsen. So wie du? , dachte er. Und dann schrie er es hinaus, so dass Speichel von seinen Lippen flog und der Schnee unter ihm vor seinem Hass nach allen Seiten floh. „So wie du, du verdammter alter Scheißkerl? Wo bist du? Wo bist du?“
Komm runter zu mir , flüsterte der Wind. Ich zeige es dir.
Dann verebbte der Wind, und die Stimme erstarb mit ihm.
Erik stöhnte. Seine angespannten Arme zitterten. Marie , dachte er. Warum bist du nicht bei mir? Ich brauche dich. Ich möchte dich noch einmal sehen, deine warme Haut berühren, deinen Atem an meiner Wange spüren. Nur noch ein einziges Mal.
Ein Schluchzen stieg in seinem Hals auf, und er drängte es wütend zurück. Und dann spülte plötzlich ein so warmes, ein so wunderbares Gefühl über ihn hinweg, dass er für einen Augenblick glaubte, er sei gestorben. Er blickte auf und musste die Augen schließen, als die Strahlen der Sonne sein eisverkrustetes Gesicht trafen. Und dann begann er zu lachen. Die Sonne schob sich über den Rand der Spalte und tauchte ihre Wände in weißes Feuer. Sie umschmeichelte Erik weich wie Seide und hüllte ihn ein wie eine warme Decke. Sie durchdrang seinen Körper wie reine Energie. Nach einer Weile kam der Schmerz. Er begann als Kribbeln in seinen Händen und Füßen, das sich schnell über seine Gliedmaßen bis zum Rumpf ausbreitete. Es wurde von Minute zu Minute stärker, bis er es fast nicht mehr aushielt. Dann wurde das Kribbeln zu einem Brennen, und Erik schrie. Er hatte das Gefühl, von innen heraus zu verglühen. Er wand sich auf dem Vorsprung und presste die Hände an seine Brust, schüttelte sie und schlug sie auf das Eis, so als könnte er den Schmerz dadurch lindern. Er wünschte, es würde aufhören. Er wünschte, er dürfte wieder in seinen kalten, gefühllosen Schlaf zurücksinken.
Und schließlich hörte es auf.
Noch einmal griff er nach dem Seil, und diesmal hielt er es fest. Doch als er versuchte, mithilfe des Seils aufzustehen, rutschte es ihm aus den kraftlosen Händen, und er stürzte zurück auf den Vorsprung. In diesem Moment begann das Tropfen. Vor ihm auf dem Eis erschienen kleine runde Punkte, zunächst nur ein paar, aber es wurden schnell mehr. Er spürte vereinzelte Einschläge auf seinem Rücken. Es fühlte sich an wie Regen. Er hob den Kopf zum strahlend blauen Himmel. Und dann sah er die Eiszapfen an der Unterseite der Schneewechte, die die Strahlen der Sonne
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