Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Am Ende des Laufs brennt eine kleine, blaue Flamme. Ein Tropfen einer klaren Flüssigkeit löst sich vom Lauf. Der Tropfen hängt in der Luft, schillert im Schein der Flammen wie ein Regenbogen, und für einen Moment sc heint die Zeit still zu stehen.
Hendriks verkrümmte Gestalt liegt in der Ecke unter den Trümmern. Erik kann sein Schluchzen hören. Hendrik ruft nach ihrer Mutter.
Erik wirft sich zu Boden. „Hendrik!“, schreit er und streckt die Hand nach seinem Bruder aus. Dann ergießt sich ein Strahl flüssigen Feuers in den Bunker, und die Welt hört auf zu sein.
Das zischende Geräusch des Flammenwerfers erstickt Eriks Schreie. Es begräbt Hendriks Weinen unter sich. Erik reißt seine Hand zurück und rollt sich zur Seite. Er spürt die Hitze, die über seinen Körper streicht und seine Kleidung versengt. Flüssiges Feuer schießt aus dem Eingang des Bunkers in den Graben. Für einen Moment ist das prasselnde Geräusch der Flammen das einzige, was er hört. Dann explodiert die Kiste mit der Panzerfaustmunition. Schrapnelle sausen singend durch die Luft und schlagen mit einem metallischen Klirren gegen die Wände des Bunkers. Ein faustgroßer Metallsplitter trifft Eriks rechtes Bein und zerschmettert sein Knie. Der Druck des Einschlags wirbelt ihn durch den Dreck wie einen wild gewordenen Kreisel. Dann senkt sich gnädige Dunkelheit über ihn.
Er erwacht und kriecht vom Bunker weg. Er weiß, dass es dort nichts mehr für ihn gibt. Der Geschützlärm klingt, als käme er aus weiter Ferne. Das Zentrum der Kämpfe hat sich nach Westen verlagert. Er findet ein kaputtes Gewehr und benutzt es als Krücke. Er tut es ohne nachzudenken. Seine Gedanken sind weit weg. Sein rechtes Bein hängt nutzlos an ihm herab wie ein mit Blut und Knochen gefüllter Sack. Irgendwie schafft er es, aus den Schützengräben zu entkommen. Dann läuft er orientierungslos durch die Stadt. Schließlich hält ein Lastwagen neben ihm. Der Fahrer fragt ihn, ob er ihn ins Lazarett bringen soll. Aber Erik sagt nein. Er müsse nach Hause. Als ihm schließlich die Adresse einfällt, setzt ihn der Fahrer vor seiner Haustür ab.
„Wo wart ihr bloß?“, fragt seine Mutter, als sie ihn in die Arme nimmt. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“
Sie fragt: „Was ist passiert?“
Sie fragt: „Mein Gott, was ist mit deinem Bein?“
Sie fragt: „Wo ist Hendrik?“
Und dann das Gesicht seiner Mutter, aus dem alles herausfließt, was lebendig ist, bis es so leer und tot ist wie ein Klumpen Lehm.
Er weiß, was er getan hat. Er weiß, dass er auf eine furchtbare, endgültige Weise versagt hat. Dass er Schuld auf sich geladen hat, die jede Vorstellungskraft übersteigt und die seinen kleinen Schädel fast in Stücke sprengt. Aber da ist kein Vater, ihn zu züchtigen, zu bestrafen, ihn halb tot zu schlagen. Da ist niemand, der diese brennende Schuld durch Schmerz lindern kann, niemand, der das schreckliche Gefühl aus ihm herausprügeln kann, das sein Herz zerreißt. Da ist kein Brüllen, kein Schlagen, kein Weinen. Da ist nur Schweigen.
Sie sitzen am Küchentisch wie zwei Steine an den gegenüberliegenden Ufern des Flusses, und die Strömung nimmt zu und schwillt an und scheint den Abstand zwischen ihnen mehr und mehr zu vergrößern.
Der Schmerz in seinem Bein nimmt zu, schwillt an wie das Wasser des Flusses zwischen ihnen. Warm läuft das Blut unter dem Küchentisch an seinem Bein hinab. Man hört es auf den Boden tropfen, so still ist es im Zimmer. Es tut weh, so weh wie nichts anderes in seinem noch jungen Leben. Der Schmerz kommt in Wellen, pulsiert im Rhythmus seines Herzschlags. Und er umarmt den Schmerz dankbar, lässt sich völlig in ihn fallen, treibt auf seinen Wellen auf und ab. Er hält sich an seinem Schmerz fest, weil er das einzige ist, was ihm jetzt noch Halt geben kann. Denn verglichen mit dem Schmerz in seinem Inneren, in seinem Herzen, in seiner Seele, ist der Schmerz in seinem Bein eine Wohltat. Er ist Medizin. Er ist Erlösung.
Kapitel 25
Vielleicht wäre er niemals wieder aus seinem tiefen Schlaf erwacht, wenn ihn nicht plötzlich ein harter Gegenstand im Gesicht getroffen hätte. Er schlug die Augen auf. Seine Lider waren mit Eis verkrustet. Die Kälte hatte jedes Gefühl aus seinem Körper vertrieben. Er blinzelte. Die Sonne stand hoch am Himmel und brachte die Ränder des Grabens zum Leuchten wie weißglühendes Metall. Ein schwarzer, kerzengerader Riss zog sich senkrecht durch die Wand
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