Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
dem zerstörten Bunker detoniert eine Granate. Steine und Dreck schießen durch die Luft. Erik wendet sein Gesicht ab, und wieder rutscht der Balken vom Lauf. Hendriks Brüllen reißt eine klaffende Wunde in Eriks Herz, die nie wie der vollständig verheilen wird.
„Du kannst ihn nicht retten“, sagt der Soldat. „Aber du kannst dich selbst retten. Wenn du mit mir kommst. Nimm meine Hand.“
Erik kniet schwer atmend über dem Körper seines Bruders. In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Er wendet sich zu dem Soldaten um. Er ist sehr groß und hat breite Schultern. Er sieht stark aus.
„Hilf mir“, fleht Erik. „Ich stemme den Balken hoch, du ziehst meinen Bruder raus.“
Aber der Soldat schüttelt den Kopf. „Es ist zu spät. Du musst jetzt mit mir kommen. Lass ihn hier, du kannst nichts mehr für ihn tun. Siehst du nicht, dass der Balken seinen ganzen Bauch zerquetscht hat? Ich kann es von hier aus sehen. Er wird sterben, so oder so. Die Frage ist nur: Willst du mit ihm sterben? Willst du in wenigen Augenblicken einen sinnlosen Tod sterben, oder willst du weiterleben? Du bist jung, das Leben liegt vor dir wie ein offenes Buch. Du musst nur diese eine Seite umblättern. Das hier ist deine letzte Chance. Nutze sie! Komm mit mir.“ Der Soldat fixiert Erik mit schwarzen Augen. Schließlich lässt er die ausgestreckte Hand sinken. „Es ist deine Entscheidung.“ Er wendet sich ab und ist im nächsten Moment im Graben vor dem Bunker verschwunden.
„Warte!“, schreit Erik und springt auf.
„Lass mich nicht hier, Erik.“ Hendrik weint zu seinen Füßen. „Oh bitte, bitte lass mich nicht allein.“
Ein Granateinschlag rüttelt an den Überresten des Bunkers. Staub tanzt im Schein der Flammen durch die Luft. Erik schluckt den Kloß in seinem Hals hinunter. „Ich werde Hilfe holen“, sagt er.
„Oh nein, nein, nein, lass mich nicht hier! Lass mich nicht hier zurück!“
„Ich komme wieder, versprochen. Aber alleine schaffe ich das nicht. Ich hole Hilfe und komme zurück.“ Er kniet sich ein letztes Mal neben seinen Bruder und ergreift seine Hand. „Ich hol dich hi er raus, Hendrik. Vertrau mir.“
Vor dem Bunker werden Kommandos gebrüllt. Die Stimmen klingen sehr nah. Grelle Feuerstrahlen zerschneiden die Nacht. Die Luft ist erfüllt vom Gestank brennenden Treibstoffs. Durch die Schießscharte sieht Erik Männer in glänzenden Schutzanzügen auf den Bunker zukommen.
„Erik“, keucht Hendrik, und Blut quillt über seine Lippen.
Erik springt auf und flieht aus dem Bunker. Er wendet sich nach rechts und läuft geduckt durch den Schützengraben. Explosionen reißen grelle Stücke aus der Nacht, Feuergarben streichen über das Schlachtfeld wie glühende Sensen. Über allem liegt das Schreien der Verwundeten, das Röcheln der Sterbenden. Als ein weiterer Blitz durch die Nacht zuckt, erkennt Erik hundert Meter vor sich im Graben den deutschen Soldaten.
„Warte!“, schreit er über den Lärm und das Chaos hinweg.
Der Soldat bleibt stehen und dreht sich zu ihm um, so als hätte er ihn tatsächlich gehört. Er strahlt eine vollkommene Ruhe aus. Seine dunklen Augen richten sich auf Erik. Auf seinem schwarzen, verdreckten Gesicht erscheint ein Lächeln. Er nickt Erik zu, wendet sich ab und springt im nächsten Augenblick in einen anderen Graben.
„Bleib stehen!“, brüllt Erik und läuft, so schnell es seine schmerzenden Glieder zulassen. Er erreicht die Kreuzung und biegt nach links in den Graben ab, in dem der Soldat verschwunden ist. Aber der Graben ist leer.
Erik blickt sich verwirrt um. „Wo bist du?“, schreit er, aber nur das Donnern der Geschütze antwortet ihm. Er leckt sich über die Lippen, sc hmeckt Blut und Salz und Dreck.
Dann macht er auf dem Absatz kehrt. Eine Gruppe von Jungen kommt ihm entgegen gelaufen, und er fleht sie um Hilfe an. Aber sie starren mit aufgerissen Augen an ihm vorbei ins Leere. Manche stoßen ihn achtlos zur Seite, andere laufen einfach gegen ihn, so als würden sie ihn gar nicht wahrnehmen.
Erik hastet den Weg zurück, den er gekommen ist. Sein Herz hämmert wie ein Presslufthammer in seiner Brust. Als er den Eingang des Bunkers endlich erreicht, in dem noch immer sein Bruder liegt, bleibt er wie angewurzelt stehen. Direkt vor der Schießscharte auf der anderen Seite des Bunkers nähert sich ein Mann in einem silbern glänzenden Schutzanzug. Der Lauf eines Flammenwerfers schiebt sich durch die Schießscharte.
Erik registriert jedes Detail.
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