Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
lange er in diesem Dämmerzustand über den Gletscher getaumelt war, als er plötzlich die Abdrücke im Schnee bemerkte. Er blieb keuchend stehen.
Zu seinen Füßen verlief eine Spur von Hufabdrücken. Er betrachtete sie für eine Weile, bemüht, einen klaren Gedanken zu fassen. Er zitterte so sehr, dass seine Zähne aneinander schlugen. Die Spur verlor sich inmitten seiner eigenen Fußabdrücke in der Dunkelheit. Er musste ihr bereits seit geraumer Zeit gefolgt sein, aber er hatte sie nicht bewusst wahrgenommen.
Plötzlich ließ ein Geräusch ihn herumfahren. Aus der Finsternis vor ihm trat ein schwarzer Geißbock. Sein Körper hob sich von der Eisfläche ab wie ein Brandfleck von einem weißen Tischtuch. Sie standen sich reglos gegenüber.
„Geh weg“, flüsterte Erik.
Der Geißbock entblößte die Zähne, als würde er grinsen. Erik stolperte rückwärts und setzte sich in den Schnee. „Verschwinde“, krächzte er.
Der Geißbock kam näher, bis sein Schädel nur noch wenige Zentimeter von Eriks Gesicht entfernt war. Dunkle Augen, in denen sich die Sterne spiegelten, bohrten sich in Eriks. Er spürte den heißen Atem des Tieres auf seinem eisverkrusteten Gesicht, und er stank nach verrottetem Gras, alter Pisse und faulen Eiern.
Mit einem Mal wandte der Geißbock sich ab und trottete langsam davon. Bald hatte die Nacht ihn verschluckt. Erik starrte mit klopfendem Herzen in die Finsternis. Als er schließlich die Kraft fand, aufzustehen, sah er das Licht. In der Richtung, in die der Geißbock verschwunden war, leuchtete eine Laterne warm und golden in der kalten Nacht. Er fühlte Hoffnung in sich wachsen wie eine Blüte, die sich im Sonnenschein das erste Mal öffnet. Er sah auf die Hufabdrücke hinunter, und etwas in ihm sagte ihm, dass er besser hier bleiben sollte, dass er sich in den Schnee setzen und abwarten sollte, was passieren würde. Etwas in ihm sagte ihm, dass es nicht wehtun würde, wenn er hier blieb.
Lange stand er reglos auf dem Gletscher. Seine Gedanken drehten sich träge um sich selbst. Der Wind zerrte an seinem Mantel. Der weiche Schnee unter seinen Füßen gefror in der kälter werdenden Nacht. Du solltest hier sterben , dachte er . Du solltest schon im großen Graben sterben. Leg dich einfach aufs Eis und schließ die Augen. Es wird schnell gehen.
Dann blickte er auf, und das Licht übte eine solche Anziehungskraft auf ihn aus, dass seine Zweifel verstummten. Er lief los. Er spürte neue Kraft in sich, und er lief so schnell, dass er stolperte und fiel. Seine ausgestreckten Hände durchstießen die dünne Eiskruste, und seine Arme versanken bis zu den Schultern im Schnee. Dann rappelte er sich auf und wühlte sich weiter voran.
Das Licht wurde heller. Er taumelte darauf zu. Er achtete nicht mehr auf die Spalten im Eis, auf die Risse und Buckel, die scharfen Kanten und zersplitterten Schollen. Wie eine Motte stürzte er sich auf das Licht, weil er glaubte, dass es Leben verhieß. Dann traten seine Füße ins Leere, und er fiel.
Er schlug hart auf einer Eisplatte auf, prallte ab und krachte gegen einen Felsen. Er drehte sich um die eigene Achse und schlitterte die steile Eisfläche hinab. Das Eis verwandelte sich in matschigen Schnee, und der Schnee wurde zu Geröll. Erik überschlug sich, während er den Abhang hinunterrollte. Einige Büsche bremsten seinen Sturz ab, aber er fegte über sie hinweg und schlitterte über nackten Stein und feuchtes Gras, bis er schließlich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm prallte. Er krümmte sich zusammen und stöhnte. Warmes Blut füllte seinen Mund.
Er erhob sich und suchte an einem Baumstamm nach Halt. Stechender Schmerz durchzuckte seinen Rücken. Hinter ihm lag meterhoch und glänzend in der Dunkelheit die Gletscherzunge auf dem Rücken des Berges wie ein riesiger weißer Wurm. Das Licht, dem er hinterher gejagt war, war verschwunden. Der Wind rauchte durch die Äste der Tannen. Das Geröll knirschte unter seinen Schuhen, als er einige unsichere Schritte hangabwärts humpelte .
Das Geröll zu seinen Füßen wich Erde und Gras. Er stieg parallel zur Gletscherzunge ab. Irgendwo unter ihm musste die Hochebene sein. Die Stämme der Tannen verschluckten das wenige Licht, das der Himmel über dem Großen Kirchner in dieser Nacht zu geben hatte. Mit ausgestreckten Händen tastete Erik sich vorwärts und bahnte sich seinen Weg durch die Tannen. Er trat zwischen zwei Stämmen hindurch, und plötzlich öffnete sich der Wald zu einer weiten
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