Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
sieht aus, als hätte jemand einen Haufen Schlachtabfälle in ein Lagerfeuer gekippt. Aber er will nicht, er kann nicht darüber nachdenken. Seine Beine wollen nachgeben, und es gelingt ihm im letzten Moment, sich an der heißen, rauen Wand des Bunkers abzustützen.
Die rechte Hälfte des Bunkers ist eingestürzt. Ein Junge liegt unter den Trümmern, eine Hand und ein Fuß ragen unter dem eingedrückten Dach hervor. Einige der Bretter haben Feuer gefangen. Er kann die drei anderen Jungen nirgends entdecken. Aber auf dem Boden liegen so viele Dinge, rote und glänzende Dinge, die alles sein könnten. Auch drei sechzehnjährige Jungen. Draußen rasseln und scheppern und quietschen die Panzerketten. Er kann die Abgase der Panzer riechen. In einer ihm fremden Sprache gebrüllte Kommandos hallen durch die Nacht.
„Hendrik?“, ruft er, und dreht sich langsam um die eigene Achse, wie in Trance, wie in einem Traum. Eine weitere Panzergranate schlägt ganz in der Nähe ein, aber er nimmt die Explosion kaum wahr. „Hendrik?“, ruft er noch einmal.
Aus einer dunklen Ecke des Raumes dringt ein Wimmern zu ihm. Er stolpert darauf zu, setzt mühsam einen Fuß vor den anderen, und achtet dabei darauf, nicht auf die Dinge zu treten, die auf dem Boden verteilt sind.
„Hendrik?“, ruft er, und seine Stimme überschlägt sich. Das Wimmern wird lauter, während er darauf zugeht. In der hinteren Ecke des Bunkers, wo die Decke noch nicht vollständig eingestürzt ist, sondern knapp über dem Boden hängt, liegt eine menschliche Gestalt. Ihre Beine sind unnatürlich verdreht. Erik kniet sich neben den Körper.
„Hendrik, bist du das?“, fragt er. Das Wimmern wird zu einem Schluchzen.
„Erik. Erik, hol mich hier raus!“ Hendriks Stimme klingt schwach, wie im Halbschlaf. „Es tut so weh, so weh!“
„Hendrik! Gib mir deine Hand. Ich hol dich raus. Ich hol dich raus!“
Er tastet nach der Hand seines Bruders, findet den Arm, ergreift ihn und zerrt daran. Hendriks Schluchzen wird zu einem Kreischen.
„Aufhören, hör auf! Ich bin eingeklemmt!“
„Ich hol dich raus, warte nur, ich hol dich raus.“
Die Stimmen vor dem Bunker werden lauter. Wieder greift Erik unter die Trümmer, tastet den Körper seines Bruders ab, und schließlich stoßen seine Hände gegen ein massives Hindernis. Ein Holzbalken liegt quer über Hendriks Bauch. Erik zerrt und rüttelt daran, stößt dagegen, versucht, ihn hochzuheben, aber der Balken rührt sich keinen Millimeter von der Stelle.
„Ich bin eingeklemmt“, wimmert Hendrik wieder und wieder.
„Nur noch einen Moment“, sagt Erik. „Ich hol dich raus!“ Er atmet schwer in der stickigen Luft des Bunkers, überlegt fieberhaft. Er spürt die Tränen nicht, die seine Wangen hinablaufen. Dann steht er plötzlich auf, läuft zurück zu der Stelle, an der die Druckwelle ihn gegen die Wand geschmettert hat. Im Feuerschein sucht er mit den Augen den Boden ab, und schließlich findet er ein Gewehr, hebt es hastig auf und eilt zurück zu Hendrik. Er benutzt das Gewehr als Hebel. Endlich gelingt es ihm, den Balken einige Zentimeter vom Boden hochzustemmen.
„Jetzt! Kriech raus!“, schreit er.
Aber Hendrik bewegt sich nicht. „Ich kann nicht“, keucht er zwischen zwei Schluchzern. „Ich kann mich nicht bewegen. Du musst mich ziehen.“
Erik greift nach seinem Arm und zerrt daran, aber in diesem Moment rutscht der Balken vom Lauf des Gewehrs und stürzt zurück auf Hendriks Bauch. Seine Schreie gehen im Donnern der Geschütze unter.
„Du musst ihn hier lassen“, sagt eine Stimme hinter ihm. Erik dreht sich benommen um. Im Eingang des Bunkers steht ein deutscher Soldat. Erik erkennt ihn an seiner Uniform und an seinem Helm. Sein Gesicht ist über und über mit Blut und Schlamm verkrustet.
„Das werde ich nicht“, sagt Erik und schiebt das Gewehr erneut unter den Balken.
„Sie werden gleich hier sein. Komm mit mir, das ist deine einzige Chance.“ Die Stimme des Mannes ist vollkommen ruhig. Sie strahlt in den Bunker wie ein Leuchtfeuer, das Ordnung und Orientierung in einem Meer aus Chaos verspricht. Der Soldat streckt die Hand aus.
Erik zögert. „Ich werde meinen Bruder nicht zurücklassen“, keucht er und stemmt sein gesamtes Gewicht gegen den Lauf des Gewehrs.
„Lass mich nicht hier, Erik“, flüstert Hendrik.
„Aber du musst!“, sagt der Soldat. Seine Stimme ist sanft, aber bestimmt, wie eine Leine aus Samt. „Sonst sterbt ihr beide! Komm mit mir. Jetzt!“
Vor
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