Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
hätte, die ebenfalls am Unterricht teilnehmen wollten? Manche lächelten, wenn sie verneinten, andere reagierten zornig, einer jagte ihn mit einem Knüppel von seinem Grundstück. Aber es lief überall auf dasselbe hinaus: Es gab keine jüngeren Geschwister. Es gab in Thannsüß niemanden, der jünger als dreizehn Jahre war.
Erik spürte eine Verzweiflung in sich wachsen, die ihm die Luft abschnürte. Und nach und nach wurde die Verzweiflung von dumpfer Ungläubigkeit erdrückt, die mit jeder Absage, mit jeder Verneinung wuchs und schließlich das Feuer einer kaum zu bändigenden Wut entfachte. Es gibt hier keine Kinder , schoss es ihm wieder und wieder durch den Kopf. Es gibt hier keine Kinder. In ganz Thannsüß gibt es keine Kinder.
Und schließlich sagte die Wut ihm, was er zu tun hatte. Nicht die Vernunft und nicht sein Gewissen und ganz sicher nicht sein Verstand. Seine Wut. Sie sagte: Du musst den Pfarrer zur Rede stellen. Du musst es jetzt tun.
Nachdem er seine Runde beendet hatte, lief Erik direkt zum Pfarrhaus. Von außen sah er, dass im Zimmer des Pfarrers noch Licht brannte, deshalb rannte er einfach an Anna vorbei die Treppe hinauf.
„Er schläft schon!“, rief Anna.
„Nein, tut er nicht“, sagte Erik ohne sich umzudrehen.
Er klopfte an und trat ein, ohne auf eine Aufforderung zu warten. Der Pfarrer war in ein Buch vertieft. Er ließ es auf seine Brust sinken. „Erik“, sagte er müde. „Kommen Sie nur herein. Mein Gott, Sie sehen furchtbar aus.“
Erik hielt schwer atmend inne. Er blickte auf den Pfarrer hinunter, auf die dürre, blasse Gestalt unter einem Berg aus Daunendecken, auf die Metallschüssel neben dem Bett, deren Boden mit rotem Schleim bedeckt war. Und während er nach Luft rang und auf den sterbenden alten Mann auf dem Bett hinuntersah, der ihm für eine Weile als ein besserer Vater erschienen war, als sein eigener Vater es je hatte sein können, da spürte er, wie mit jedem Herzschlag ein Teil seiner Wut aus seinem Körper gespült wurde, bis nur noch Spuren von ihr auf seiner Seele schwelten. Er presste die Lippen zusammen. „Wie geht es Ihnen, Thomas?“, stieß er schließlich hervor. „Sie haben die letzten Tage im Bett verbracht?“
„Die alte Lunge macht mir wieder zu schaffen.“ Er hustete und wischte sich das Kinn mit einem weißen Tuch ab. Rote Flecken blieben darauf zurück. „Was haben Sie auf dem Herzen, Erik?“
„Ich habe heute meine Runde durchs Dorf gemacht.“ Erik schluckte den Klumpen in seinem Hals hinunter. „Nur um alle daran zu erinnern, dass am Montag der Unterricht beginnt. Dabei ist … mir ist etwas aufgefallen.“
Der Pfarrer sah in fragend an. „Und was wäre das?“
„Es gibt hier keine Kinder.“ Die Worte kamen stoßweise. „Das Jüngste ist dreizehn Jahre alt. Konrads Tochter, wenn ich mich nicht irre.“
„Ja, sie ist die Jüngste.“ Im Schein der elektrischen Glühbirne wirkte das Gesicht des Pfarrers bleich und eingefallen.
„Wo sind die Kinder?“, flüsterte Erik.
„Wie Sie bereits sagten, Erik: Es gibt keine. Thannsüß stirbt. Wir sind die Letzten, die übrig sind. Nach uns wird niemand mehr durch diese Straße schreiten, niemand mehr diese Häuser mit Leben füllen, niemand mehr die Felder bestellen und das Heu einfahren. Wir sind die letzte Generation. Nach uns kommt nichts mehr.“
„Aber warum?“, fragte Erik mit belegter Stimme.
Der Pfarrer atmete tief durch. Das Sprechen bereitete ihm sichtliche Anstrengung. „Vor einigen Jahren wütete ein schlimmes Fieber im Dorf. Es gab keinen, der nicht krank darniederlag. Ein paar der Alten starben. Und alle Kinder. Jedes einzelne von ihnen. Das Fieber hat uns alles genommen, was unser Leben mit Glück erfüllte.“
„Wann war das?“
Der Pfarrer sah ihn seltsam an. „Vor zwölf Jahren.“
„Aber das Fieber erklärt nicht, warum es hier keine Säuglinge oder Kleinkinder gibt.“
„Nein, in der Tat.“ Der Pfarrer hustete so lange, dass Erik glaubte, er würde ersticken. Rote Blumen erblühten auf seinem Taschentuch. „Es ist seltsam“, keuchte er schließlich, „aber seit dem Fieber wurde kein einziges Kind mehr hier geboren. Nicht eines. Vielleicht war der Schock für die Mütter so groß, dass sie insgeheim beschlossen, nie wieder Kinder in die Welt zu setzen. Vielleicht hat das Fieber sie unfruchtbar gemacht.“
Erik schüttelte den Kopf. „Das ist es?“, schnaubte er. „Ein Fieber? Das ist ihre Geschichte?“
„ Ja. Aber es ist nicht meine
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