Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Stimme nicht mehr hörte, wenn er mit Marie sprach. Der Gletscher rief ihn zu sich. Er wusste nicht, wie lange er noch standhalten konnte. Und dann war da das Buch. Immer öfter wanderte sein Blick auf die Umhängetasche an der Garderobe, und er meinte, das Buch darin glühen zu sehen wie ein Stück Kohle, glaubte die Hitze zu spüren, die es ausstrahlte, und wusste, dass er es lesen musste, dass er endlich Gewissheit brauchte, wenn er nicht den Verstand verlieren wollte.
Einmal stand er auf, trat ans Fenster und starrte auf die graue Wand des Großen Kirchners. Hoch über ihm, weit außerhalb seines Blickfeldes, fauchte der Sturm durch die Spalten des Grimboldgletschers. Die Stimmen waren laut, die Gedanken in seinem Kopf wirr.
„Mit wem redest du?“, fragte Marie schläfrig.
Er blinzelte. „Habe ich geredet?“
„Ja“, sagte sie unsicher. „Schon die ganze Zeit.“
Er schluckte. „Ich habe an meinen Vater gedacht.“
„Er ist schon so lange tot.“
„Er ist hier. Ich spüre es.“
Sie rieb sich die Augen. „Wie meinst du das?“
Er biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht. Ich spüre seine Gegenwart. Er ist mir so nah wie seit seinem Tod nicht mehr. Er ruft mich zu sich.“
„Zu sich? Aber wohin?“
„Er ist auf dem Gletscher.“
„Erik, er ist tot!“
„Das ist es ja!“, rief er. Er presste sich die Hände auf die Stirn. „Das ist es ja. Er ist tot, aber er ruft nach mir. Vor zwölf Jahren ist ein Flugzeug über dem Gletscher abgestürzt. Es war sein Flugzeug!“ Er hielt inne, aber er hatte bereits zu viel gesagt.
Sie zog die Stirn in Falten und musterte ihn konzentriert. Ihre Nasenflügel weiteten sich, wie immer, wenn sie verwirrt oder zornig war. „Erik, Liebster. Wie kommst du darauf, dass dieses Flugzeug das Flugzeug deines Vaters war?“
„Weil er in meinem Kopf ist, seit ich hier angekommen bin!“ Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn.
„Hör auf“, sagte sie.
„Meine Mutter starb, weil sie die Ungewissheit nicht mehr ertragen konnte. Verstehst du? Wenn ich ihn finden könnte, dann würde das alles gerade rücken.“
„Mein armer Liebling“, sagte sie, und Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Er presste die Zähne aufeinander, um nicht zu schreien. „Ich muss ihn finden , verstehst du?“
Sie schniefte und sah ihn lange an. „Erik, du machst mir Angst. Du bist ja ganz durcheinander. Komm wieder ins Bett.“ Sie streckte ihre Hand nach ihm aus. „Bitte.“
Er kniete sich vor dem Bett auf den Boden und nahm ihre Hand in die seine. „Wenn ich ihn gefunden habe oder wenn ich sicher weiß, dass er nicht hier ist, kehren wir nach München zurück.“
Sie schüttelte den Kopf. „Aber wie soll das gehen? Sie wollen dich nicht mehr in München, hast du das vergessen? Da ist nichts mehr in München. Nichts. Erik, es tut mir so leid.“ Sie streichelte seine Wange und schniefte. „Ich bin gerade erst hier angekommen. Und es gefällt mir! Ich will gar nicht zurück, weißt du? Warum können wir nicht hier bleiben? Wir könnten doch von vorne beginnen. Du, ich, unser Kind ...“
„Hier geschehen seltsame Dinge, Marie.“
„Überall geschehen seltsame Dinge.“
„Aber es ist gefährlich ! Ich verstehe es noch nicht, aber glaub mir, es ist besser, wenn wir gehen.“
„Überall ist es gefährlich.“ Sie lächelte.
„Und hier scheint niemals die Sonne.“
„Niemals?“
„Nur draußen auf den Feldern.“
„Dann bauen wir ein Haus auf den Feldern.“
Er legte sich zu ihr, und ihre Wärme half ihm dabei, das Zittern unter Kontrolle zu bringen, das seinen Körper schüttelte.
Später saß er auf der Bettkante, die Decke über seinen Knien, und schenkte sich ein Glas Whiskey ein. Marie lag hinter ihm auf dem Bett und strich mit einem Finger sein Rückgrat entlang. „Wann hast du angefangen zu trinken?“
„Ich weiß nicht.“ Er trank von seinem Whiskey. „Dieser Ort bringt mich dazu.“
Sie nahm seine Hand. Ihre Haut fühlte sich wunderbar warm und lebendig an. „Wirst du wieder damit aufhören?“
„Ich weiß nicht“, sagte er schließlich. „Schätze schon.“
„Gut. Das genügt mir.“
„Ich bin so froh, dass du hier bist“, sagte er und schluckte den Klumpen in seinem Hals hinunter. „So froh.“
Kapitel 38
Er stand auf, holte das Tagebuch aus der Umhängetasche und setzte sich an den Esstisch. Im flackernden Schein der Petroleumlampe begann er zu lesen. Die Feuchtigkeit hatte dem Buch stark zugesetzt. Viele
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