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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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Seiten klebten aneinander und ließen sich nicht mehr trennen. Piels winzige Handschrift war größtenteils zu einer blauen Brühe verlaufen. Lediglich Fragmente seiner Eintragungen waren noch zu entziffern. Aber sie reichten aus, um Erik ein ungefähres Bild der Vorkommnisse zu vermitteln. Piel war vor einem halben Jahr in Thannsüß angekommen. Je mehr Erik las, desto klarer wurde das Bild in seinem Kopf. Offiziell war Piel nach Thannsüß gekommen, um den Posten des alten Pfarrers einzunehmen. Inoffiziell hatte man ihn mit einer anderen Aufgabe betraut: Er sollte nach den verschwundenen Kindern suchen. Offensichtlich hatte das Geburtenregister von Thannsüß einige Fragen aufgeworfen. Erik verfluchte Obermeier dafür, dass er ihn nicht eingeweiht hatte.
    Er kniff konzentriert die Augen zusammen, bis sie zu tränen begannen. Piels Schrift war selbst an den Stellen schwer zu lesen, wo die Seiten intakt waren. Wo das Buch der Feuchtigkeit ausgesetzt gewesen war, waren seine Einträge nicht mehr zu entziffern. Das Wasser hatte sie von den Seiten gewischt. Der hintere Teil des Buches schien weniger angegriffen zu sein. Erik entnahm den Aufzeichnungen, dass Piel keine Kinder in Thannsüß gefunden hatte, die jünger als zwölf Jahre waren. Offensichtlich hatte er seine Entdeckung dem Pfarrer mitgeteilt. Danach wirkten die Einträge angsterfüllt und wirr. Piel schrieb, dass er um sein Leben fürchtete; dass jemand versucht hatte, nachts ins Gästehaus einzubrechen; dass einige angesehene Gemeindemitglieder ihn öffentlich auf dem Marktplatz attackiert hatten.
    Erik spürte eine Anspannung in sich, die seinen gesamten Körper zum Zittern brachte. Zuviel von seiner eigenen Geschichte spiegelte sich in den krakeligen, teils unleserlichen Zeilen.
    Dann brachen die Aufzeichnungen unvermittelt ab. Erik las Piels letzten Eintrag.
     
    „Die Wahnsinnigen! Was haben sie getan? Nicht einmal Gott kann ihnen jetzt noch helfen. Sie sind alle verloren. Die Kinder! Die armen, unschuldigen Kinder. Ich kann es nicht glauben! Die Worte lassen mich im Stich. Was könnte das Grauen beschreiben, was den Schrecken, der hier geschehen? Ich habe das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Ich fürchte, dass dies mein letzter Eintrag sein wird. Ich weiß nicht, wie sie es herausgefunden haben, aber sie wissen von meinem Auftrag. Sie wissen es! Sie haben Kleinschmidt und Wrede geschickt, um die Drecksarbeit zu erledigen. Heute Vormittag kamen sie in den Unterricht. Sie haben die Kinder nach Hause geschickt. Sie wollten es mitten im Klassenzimmer zu Ende bringen. Aber ich habe mich gewehrt, oh ja. Sie haben den kompletten Raum verwüstet. Sie waren wie von Sinnen. Ich konnte durchs Fenster entkommen. Aber ich bin verletzt. Sie haben ...“
     
    Ein Wasserfleck hatte die nächsten Zeilen ausgelöscht. Weiter unten wurde die Schrift wieder lesbar:
     
    „... seit Stunden in dieser Hütte. Es ist dunkel draußen. Sie suchen auf dem Gletscher nach mir. Wenn ich aus dem Fenster blicke, sehe ich ihre schwarzen Gestalten und den Schein ihrer Lampen auf der Gletscherzunge. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern. Jeden Moment wird die Tür aufgestoßen werden, und dann werden sie es zu Ende bringen. Gott, wie meine Hände zittern! Ich muss fort von hier. Ich glaube nicht, dass ich es bis nach Bruch schaffen werde. Sie sind zu viele. Möge ein rechtschaffener Mann diese Aufzeichnungen eines Tages finden. Auf dass mir und allen, die an diesem Ort gelitten haben, Gerechtigkeit wiederfahre. Gott steh mir bei. Draußen Stimmen. Sie kommen.“
     
    Darunter hatte jemand anders in einer ausholenden, hektischen Handschrift einen weiteren Absatz geschrieben. Eriks Herz krampfte sich zusammen, während er die Worte wieder und wieder las.
     
    „Unsere Welt bricht auseinander. Ich habe dieses Buch aus seinem Versteck geholt, in der Hoffnung, es werde hilfreich dabei sein, die Dinge wieder ins Lot zu rücken. Wer auch immer diese Zeilen liest, möge die Aufzeichnungen von Cornelius Piel studieren, um zu verstehen. Vor zwölf Jahren haben wir einen schrecklichen Fehler begangen. Ein Augenblick der tiefsten Verzweiflung hat uns zu Mördern gemacht. Zu Monstern. In dem festen Glauben, das Leben zu wählen, haben wir uns für den Tod entschieden. Der Teufel treibt ein grausames Spiel mit uns. Jemand muss dem ein Ende machen! Brennt das ganze Dorf nieder, wenn es sein muss. Fliehe, wer kann! Ich selbst kann es nicht. Ich habe keine Kraft mehr. Als Bürgermeister von

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