Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
widerstand dem Impuls, den Alten von sich zu stoßen. „Ich habe keine Zeit“, sagte er nur.
„Erübrigen Sie eine Stunde Ihrer kostbaren Zeit. Tun Sie es für Lothar. Es ist sein Leichenschmaus.“
Erik starrte ihn lange an. Dann setzte er sich widerstrebend in Bewegung. Sie gingen zwischen den schneebedeckten Grabsteinen hindurch zurück zum Pfarrhof.
„Warum findet der Leichenschmaus bei Benedikt statt?“
Der Pfarrer drehte sich um und ließ seinen Blick über die Gipfel in der Ferne schweifen. „Lothars Familie ist zu Benedikt gezogen. Auf dem Hof sind Leute, Freunde, die ihr in diesen schweren Zeiten beistehen können.“
Erik dachte an Lothars Frau und seine beiden Töchter, die mit leeren Augen Lothars Leichnam anstarrten, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.
„Jetzt laufen Sie schon, Erik. Holen Sie Ihre Frau, und dann lassen Sie uns gehen.“
In der Wohnstube von Benedikts Haus drängten sich so viele Menschen, dass es schwierig war, einen freien Platz zu finden. Die Leute standen in Gruppen beisammen und unterhielten sich gedämpft. Die Anwesenden schienen keinerlei Notiz von Erik und Marie zu nehmen. Schnaps wurde ausgeschenkt, und Erik nahm ein Glas von einem der Tabletts.
Marie hatte sich bei ihm untergehakt wie zuvor der Pfarrer. Sie stand aufrecht an seiner Seite, voller Leben und höflich zu jedem, der ihr die Hand reichte, um sie willkommen zu heißen. Mit mütterlichem Stolz trug sie die Rundung ihres Bauches vor sich her, die sich deutlich unter ihrem schwarzen Kleid abzeichnete, und erwiderte die unzähligen Blicke, die auf sie einprasselten wie Hagelkörner in einem Sturm, mit freundlicher Gelassenheit. Erik bewunderte sie dafür. Aber er konnte seine eigene Angst nicht verdrängen.
Er sah sich nervös im Zimmer um. Er spürte eine Spannung im Raum, die summte und vibrierte, als sei die Luft elektrisch aufgeladen. Seine Hand, die das Glas hielt, zitterte, und die kalte, klare Flüssigkeit darin schwappte auf seine Finger.
Benedikt und der Pfarrer standen auf der anderen Seite des Raumes. Benedikts Gesicht war stark gerötet. Die Zornesfalte zwischen seinen Augen war tief und wulstig. Auf dem Sofa lag seine Frau Agathe unter einer weißen Wolldecke. Ihre Augen waren geöffnet. Das milchweiße Auge war zur Zimmerdecke gerichtet. Das andere war so dunkel und leer wie der alte Bergwerksstollen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich langsam. Agathe hatte sich von ihrem Zusammenbruch nie mehr richtig erholt. Und obwohl niemand es jemals ausgesprochen hatte, war Erik davon überzeugt, dass die Schuld für ihren jetzigen Zustand zumindest teilweise bei ihm lag. Er wandte den Blick ab.
Der Pfarrer drehte sich zu der versammelten Menge um und reckte sein Kinn in die Höhe. Das Stimmengemurmel verstummte.
Der Pfarrer faltete die Hände vor der Brust. „Meine Freunde“, sagte er und hustete leise in sein Taschentuch. „Wir haben heute Abschied genommen von Lothar Brant, unserem geschätzten Bürgermeister. Er war vielen von uns ein guter Freund und seiner Familie ein treu sorgender Ehemann und Vater. Im Namen seiner Frau und seiner beiden Töchter danke ich euch für die herzlichen, warmen Worte von heute Morgen. Sie haben mein Herz erfreut.“ Der Pfarrer hob sein Schnapsglas. „Auf Lothar!“
„Auf Lothar!“, antwortete die Menge. Sie hielten ihre Gläser hoch in die Luft, ehe sie den Schnaps hinunterstürzten. Erik tat es ihnen gleich.
Der Pfarrer hob beide Hände, und Stille fiel über den Raum. „Verzweifelt nicht, meine Kinder“, sagte er schließlich. „Denn wisset, ich bin das Leben und das Licht, spricht der Herr. Wo viel Schatten ist, da scheint auch das Licht besonders hell. Ein Mensch schließt seine Augen für immer, ein anderer öffnet sie und schaut zum ersten Mal die ganze Pracht und Herrlichkeit der Schöpfung.“ Er atmete tief durch, und das Rasseln seiner Lungen schnitt durch die Stille. „Herr und Frau Strauss, kommen Sie zu mir!“
Erik zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte.
„Nun kommen Sie schon“, rief der Pfarrer und winkte sie zu sich. „Kommen Sie nach vorn, damit alle Sie sehen können.“
Erik sah sich unbehaglich um. Sein Herz schlug schneller.
„Na, los doch!“, rief der Pfarrer.
Erik setzte sich zögernd in Bewegung. Er hielt Maries Hand fest umklammert. Sie gab ihm Sicherheit. Die Menge teilte sich bereitwillig vor ihnen. Blicke folgten ihnen wie Kompassnadeln einem Magneten. Der Pfarrer empfing sie mit ausgebreiteten Armen. Er legte
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