Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
einer Schallplatte hängen bleibt und denselben Teil eines Liedes immer wieder abspielt. Dies ist der Moment, der in einer Endlosschleife vor ihrem inneren Auge abläuft, an jedem Tag, den ganzen Tag. Dies ist der Moment ihres Todes.
Ein faustgroßer Stein durchschlägt das Dach des Hauses und kracht auf die Bodendielen. Der Stein scheint zu leuchten in dem wenigen Licht, das durch das geborstene Fenster ins Zimmer fällt. Der Stein glitzert feucht. Und plötzlich weiß sie, dass das, was da vor ihr auf dem Boden liegt, kein Stein ist. Es ist ein Eisbrocken. Auf dem Dach ein Prasseln, ein Klackern, als würden Murmeln auf Marmor fallen. Und dann naht ein Brausen und Rauschen heran, es kommt schneller als der nächste Atemzug. Das Herz tut einen Schlag, dann zwei, und dann durchschlägt etwas von der Größe eines Kübelwagens das Dach und donnert auf den Boden, zertrümmert ihn, durchbricht die Zwischendecke. Trümmer, Holzteile, Dachziegel regnen ins Zimmer. Splitter brechen von dem riesigen Eisblock ab und zischen durch die Luft. Sie hebt schützend die Hände vor ihr Gesicht.
Erst einige Augenblicke später bemerkt sie, dass der Eisbrocken ihre Beine zerschmettert hat. Da beginnt sie zu schreien. Sie reißt den Mund auf und hebt den Kopf zur Decke, aber die Decke ist fort. Das Dach ist verschwunden. Sie sieht den Himmel, die dunklen Wolken, den Regen, der jetzt auch ins Zimmer fällt, die grellen Blitze. Eine Sturzflut riesiger Eisbrocken fällt aus dem Himmel, verschlingt Wolken, Regen, Blitze, reißt die Wände nieder als wären sie aus Papier, begräbt das Haus unter sich. Etwas rast aus der Dunkelheit auf sie zu wie ein Geschoss. Sie will den Kopf zur Seite reißen, aber es ist zu spät. Finsternis explodiert vor ihren Augen, und dann ist da nichts mehr. Gar nichts.
Seine eigenen Schreie rissen ihn zurück in die Gegenwart. Er saß zusammengesunken auf dem Boden neben dem Sofa. Er kroch rückwärts über die Dielen, bis er mit dem Rücken gegen ein Hindernis stieß. Die Anwesenden hatten einen Halbkreis um ihn und Agathe gebildet und starrten auf ihn herunter. Er verstand nicht, was vor sich ging. Er wusste nicht, wo er war. Er begriff nicht, warum er am Leben war. Er rang nach Luft und presste sich beide Hände auf die Brust, auf die Stelle, wo sein Herz schnell und schmerzhaft pochte. Seine Hände wanderten über seinen Körper, sein Gesicht, suchten nach Verletzungen, erwarteten heißes Blut und zersplitterte Knochen. Doch er war völlig unversehrt.
Agathe gab ein Stöhnen von sich. Ihre Hand rutschte vom Sofa und baumelte schlaff herunter. Begleitet von einem leisen Seufzer verließ der letzte Atemzug ihre Lippen.
„Agathe?“, flüsterte Benedikt, und sogar in seinem verwirrten Zustand hörte Erik die Angst in seiner Stimme.
Dann ertönte ein Geräusch, als würde man ein Bündel morscher Äste in der Mitte durchbrechen. Ein Blutschwall färbte den unteren Teil der Wolldecke, wo Agathes Beine lagen, rot. Lähmendes Entsetzen legte sich über die Trauergäste.
„Agathe?“, flüsterte Benedikt noch einmal.
Plötzlich schien es, als würde Agathes Schädel von einem unsichtbaren Geschoss getroffen. Ein lautes Knacken durchbrach die Stille, als ihr Kopf um 180 Grad herumgerissen wurde und mit dem Gesicht nach unten auf dem Kissen zum Liegen kam. Erik hörte das schabende Geräusch, als ihre gebrochenen Halswirbel aneinander rieben. Er kroch rückwärts von ihr weg. Dann stand er taumelnd auf, packte Maries Hand und wankte auf die Eingangstür zu. Nur am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, dass Marie schrie. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, stieß die Leute einfach mit dem Ellenbogen beiseite. Er riss die Tür auf und stolperte hinaus auf den Hof. Er stürzte in den Schnee. Tränen strömten über sein Gesicht. Marie stand neben ihm und presste sich die Fäuste auf den Mund. Und im Inneren des Hauses begann Benedikt Angerer zu brüllen wie ein waidwundes Tier.
„Erik.“ Maries Stimme drang durch den roten Nebel, der sich über seinen Verstand gelegt hatte. „Steh auf!“
Er stöhnte und wand sich im Schnee.
„Steh auf!“, schrie Marie. „Wenn du es nicht für mich tust, dann tu es für dein Kind!“ Sie zerrte an seiner Hand.
Er blickte benommen zu ihr auf.
„Wir müssen nach Hause, Erik.“
„Wo ist das?“, fragte er. Er fühlte eine so tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in sich, wie er sie noch nie gespürt hatte. Eine allumfassende Leere breitete
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