Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
ihm die Pistole beinahe aus der Hand. Der Schuss hatte Benedikt verfehlt. Erik legte erneut an. Er zielte etwas höher und stützte das Gewicht der Waffe mit seinem anderen Arm ab. Diesmal war er auf den Rückstoß vorbereitet, und er feuerte dreimal in schneller Folge. Benedikt stürzte lautlos in den Schnee. Mindestens eine der Kugeln hatte ihn in den Rücken getroffen. Die Lampe flog aus seiner Hand und landete neben ihm auf dem Eis des Gletschers.
Anna, Kathi und Kanter blieben wie angewurzelt stehen. Anna ging neben Benedikt in die Knie. Erik hörte ihr Schreien, und es klang so verzweifelt und voll von Schmerz, dass er erschauerte.
Auf einer Ebene inmitten der Eisbuckel und Grate des Gletscherrückens standen sie sich gegenüber, jede Gruppe in den weichen, flackernden Schein einer einzigen Petroleumlampe gehüllt. Anna drückte ein Bündel aus Decken an ihre Brust.
„Da!“, keuchte Erik. „Sie hat das Kind!“
Als habe sie ihn gehört, hob Anna ihr Gesicht. Ihre Augen trafen Eriks. Er sah, dass sie weinte.
Kathi Brechenmacher streckte eine zitternde Hand nach Erik aus. Die Hand formte sich zu einer Klaue, während ihr Gesicht sich zu einer hasserfüllten Fratze verzerrte. „Du Mörder!“, schrie sie, und ihre Stimme übertönte das Brüllen des Sturms. „Du hast ihn umgebracht! Mörder!“
Sie wandte sich Kanter zu, in dessen leeren Augen das zuckende Licht der Lampe loderte. „Hol ihn dir!“, zischte sie. „Mach ihn tot.“
Kanter riss den Kopf herum. Seine schwarzen Augen schienen Erik zu verschlingen. Dann riss er den Mund auf, und ein gellender Schrei hallte über die Ebene und weit über den Rücken des Gletschers hinaus. Kanter rannte los. Er wühlte sich mit erschreckender Geschwindigkeit durch den Schnee. Kanter verließ den Lichtkegel von Benedikts Lampe und tauchte in die Finsternis ein. Von einem Moment auf den anderen war er verschwunden, so als hätte der Gletscher seinen Körper verschluckt. Aber sein Schrei schnitt weiterhin durch das Heulen des Windes wie eine Klinge. Er wurde lauter, während Kanter durch die Dunkelheit auf Erik zuhastete. Erik wich langsam zurück. Seine Augen zuckten nervös durch das Dunkel. Der Arm, der die Pistole hielt, schwankte unruhig hin und her. Erik packte die Waffe fester. Kanters Schrei steigerte sich zu einem tobenden Brüllen und brach plötzlich ab.
Aus der Finsternis und den tobenden Flocken sprang Kanter in den Lichtkreis von Eriks Lampe, sein Mund aufgerissen, sein Gesicht verzerrt. Speichel flog von seinen Lippen.
Erik schoss ihm in die Stirn.
Der Schuss peitschte über den Gletscher. Kanter wurde rückwärts durch die Luft geschleudert. Aber noch ehe sein Körper auf dem Boden aufschlug, geschah etwas, das Eriks Verstand über die Maßen strapazierte, bis etwas in seinem Kopf zerbrach wie ein dürrer Ast.
Im Augenblick seines Todes verformte Kanters Körper sich, als würde er von einer Riesenfaust zerquetscht. Sein Schädel dellte sich ein. Seine Arme wurden aus den Gelenkpfannen gerissen und standen in grotesken Winkeln von seinem Körper ab. Erik hörte ein lautes Krachen, als seine Knochen brachen. Sein rechtes Bein wurde halb abgerissen. Sein Bauch wurde platt gedrückt wie ein Teller, und alles, was darin war, schob sich in seinen Brustkorb und sprengte seinen Rippenkasten.
Als Kanter auf dem Boden aufschlug, war das Eis dunkel und durchweicht von seinem Blut. Eine rote Wolke hing einen Augenblick lang in der Luft, ehe der Wind sie fortriss.
Erik hatte das Gefühl, als würde er zugleich einen Teil seines Verstandes mit sich fortreißen. Und mehr noch: einen Teil seiner Seele. Er fühlte ein Loch in seinem Inneren, wo eben noch Leben und Wärme gewohnt hatten. Jetzt war dort nur noch eine kalte Leere, und er wusste, dass er diese Leere niemals würde füllen können. Etwas in ihm war in diesem Augenblick zusammen mit Kanter gestorben. Er taumelte rückwärts, fort von dem, was er gesehen hatte und was sein Gehirn nicht verarbeiten konnte. Eine Windböe packte ihn und hielt ihn aufrecht. Er stand schwankend im Sturm, und ein Klagelaut zwängte sich aus seiner Kehle, an dem nichts Menschliches mehr war.
„Was ist mit Ihnen?“, fragte Gutenberg hinter ihm. „Haben Sie ihn erwischt?“
Er wandte Gutenberg sein Gesicht zu, und der Arzt zuckte erschrocken zurück. „Mein Gott! Was ist passiert?“
Erik reagierte nicht.
„Reden Sie mit mir!“ Gutenberg packte ihn an den Schultern.
„Ich verliere den Verstand“,
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