Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Vorschein. Beiderseits der Straße standen schlichte Häuser und Höfe. Einige von ihnen waren offensichtlich seit Längerem verwaist. Beim Anblick der dunklen, leeren Fenster spürte Erik eine Gänsehaut auf den Armen. Als er den Pfarrer auf die verlassenen Gebäude ansprach, zog dieser die Stirn in Falten. „Die Alten sterben, Erik. Die Jungen ziehen in die Stadt. Zurück bleiben leere Häuser.“
Sie liefen eine Weile schweigend nebeneinander her. Der Pfarrer räusperte sich. „Vielleicht sollte ich Ihnen noch ein paar Takte über Benedikt erzählen“, sagte er. „Benedikt Angerer ist ein guter Mann. Ohne ihn würde es Thannsüß heute vermutlich nicht mehr geben. Er hat uns alle gerettet. In einer schlimmen Nacht im Jahre 1943.“ Sie gingen langsam die Hauptstraße hinauf. Der Blick des Pfarrers war nachdenklich in die Ferne gerichtet. „Als ich vorhin sagte, die Bombe auf dem Pfarrhof sei das einzige gewesen, was wir vom Krieg mitbekommen hätten, war das nicht die ganze Wahrheit.“ Er räusperte sich. „An einem Tag im Winter 1943, es hatte in der Nacht geschneit, und das ganze Dorf war unter einer dicken Schicht Neuschnee begraben, kam ein Trupp deutscher Soldaten nach Thannsüß. Zwanzig Mann, lauter junge Kerle, und sie waren auf Blut aus. Sie waren am Tag zuvor von Widerstandskämpfern überfallen worden, und einer ihrer Männer war dabei umgekommen. Sie sagten, sie wollten die Schuldigen finden und ihrer gerechten Strafe zuführen, aber in Wahrheit war es viel einfacher als das. Sie wollten Rache. Sie wollten Blut. Sie stolperten durch Zufall in unser Dorf, weil sie den Widerstand in den Bergen vermuteten, und wir kamen ihnen gerade recht. Natürlich fanden Sie Waffen in den Häusern. Nur ein paar Jagdgewehre und Flinten, aber das war Beweis genug. Sie trieben uns zusammen und sperrten uns in Benedikts Stall. Das ganze Dorf. Sie machten sich in Benedikts Haus breit, weil es das größte und schönste im Ort war. Sie aßen sein Fleisch und sein Brot, sie tranken seinen Schnaps, sie töteten seine Hunde und sie vergewaltigten seine Frau.“ Der Pfarrer stieß seinen Stock zornig in die Erde. „Natürlich wollte Benedikt sie verteidigen. Sie haben ihn übel zugerichtet. Dann haben sie ihn und seine Frau einfach in den Keller unter der Küche geworfen.“
Thomas Hellermann hustete und holte einige Male tief Luft. „Am nächsten Morgen sollten alle Männer im wehrfähigen Alter, wie sie es nannten, erschossen werden. Nach ihrer Definition begann das wehrfähige Alter mit vierzehn. Stellen Sie sich das vor, vierzehn! Einige glaubten, dass man mit ihnen verhandeln könnte. Benedikt nicht. Er kniete die halbe Nacht am Lager seiner Frau. Im Morgengrauen verließ er den Keller durch einen alten Versorgungstunnel, von dem die Soldaten nichts wussten. Der Tunnel führt fast bis zum alten Bergwerk hinunter. Sicher haben Sie das Bergwerk gesehen, als Sie gestern hier ankamen.“ Er warf Erik einen Seitenblick zu. Erik nickte, und der Pfarrer fuhr fort. „Benedikt trug seine Frau Agathe in seinen Armen. Die ganze Strecke, das sind etwas mehr als zwei Kilometer. Er versteckte seine Frau im alten Stollen. Er wickelte sie in eine Decke und versprach ihr, schon bald wieder bei ihr zu sein. Dann lief er zurück ins Dorf. Er wusste von dem Versteck auf Lothars Dachboden, wo Lothar die guten Gewehre aufbewahrt. Er nahm sich einen Karabiner, einen Mauser K98k, und eine Tasche voller Munition. Aus dem Keller holte er sich einen Benzinkanister. Dann lief er den ganzen Weg durchs Dorf zurück zu seinem Hof. Denselben Weg, den wir gerade gehen, Erik.“ Der Pfarrer legte eine kleine Pause ein, um Atem zu schöpfen. „Er lief ein Stück weit durch den Wald und näherte sich dem Hof unbemerkt. Er schlich sich durch den knietiefen Schnee an und erledigte die beiden Wachposten mit seinem Messer. Hat ihnen die Kehlen aufgeschnitten, von einem Ohr bis zum anderen. Er verschüttete das Benzin rings um das Haus herum, vor den Fenstern, auf den beiden toten Soldaten, überall, nur nicht vor dem Eingang. Und dann zündete er sein eigenes Haus an.“ Der Pfarrer sah zu Erik hinüber. „Sein eigenes Haus. Er hat sich ein schönes Plätzchen zwischen den Bäumen gesucht, von dem aus er den Eingang bestens im Blick hatte. Dann hat er sich in den Schnee gelegt, das Gewehr auf einen Baumstumpf gestützt, durchgeladen und abgewartet. Er musste nicht lange warten. Diejenigen, die noch nicht zu besoffen waren, um zu laufen, kamen
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