Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
zum ersten Mal auf, dass ein ständiger Schatten über dem gesamten Dorf zu hängen schien. Die Sonne hatte mittlerweile ihren höchsten Stand erreicht, aber sie schaffte es trotzdem nicht über den Gipfel des Großen Kirchners und den Rand des Gletschers hinaus. 600 Meter über der Stelle, an der sie standen, hing der Grimboldgletscher über dem Dorf wie ein gigantisches Monument aus Eis, geschaffen einzig, um dem Menschen seine unbedeutende Größe vor Augen zu führen. „Macht Ihnen der Gletscher Angst?“, fragte Erik.
Der Pfarrer ließ seinen Blick ebenfalls hinauf zum Gipfel wandern. Die Sonne brachte die Ränder des Gletschers zum Leuchten wie elektrischer Strom den Draht im Inneren einer Glühbirne. „Nein“, sagte der Pfarrer. „Warum sollte er mir Angst machen? Die beiden Gletscherzungen bilden einen natürlichen Schutz. Der Gletscher wacht über uns.“
„Aber Sie sagten doch gerade …“
Der Pfarrer unterbrach ihn mit einem leisen Lachen. „Ich fürchte, da haben Sie mich falsch verstanden. Wenn ich sage, der Gletscher ist gefährlich, dann meine ich damit, dass es gefährlich ist, ihn zu betreten. Viele gute Männer sind im Lauf der Jahrzehnte nach oben gegangen und nicht zurückgekommen.“
„Er sieht aus, als könnte er jeden Moment herunterkommen.“
„Keine Sorge, das wird er nicht. Der Gletscher hängt dort seit Tausenden von Jahren. Ich denke, er wird noch einige weitere durchhalten.“
Die Kirche von Thannsüß ragte leuchtend wie das Eis des Gletschers in den Himmel. Die gesamte Fassade war mit weiß gestrichenem Holz verkleidet. Direkt vor ihnen lag das Hauptgebäude mit dem Kirchenschiff, an das sich der Turm anschloss. Erik schätzte seine Höhe auf elf oder zwölf Meter. Unter der Turmspitze waren Bogenfenster in die Wände eingelassen, durch die man die schwere Bronzeglocke sehen konnte. Die Kirche war sehr schlicht, aber vor dem blauen Himmel und der überwältigenden Aussicht ins Tal wirkte ihre strahlend weiße Erscheinung so beeindruckend, dass Erik stehen blieb, um den Anblick in sich aufzunehmen.
„Die Kirche von Thannsüß“, sagte der Pfarrer.
„Sie ist wunderschön. “
Der Pfarrer lächelte. „Wie ich hörte, haben Sie der Kirche gestern Abend bereits einen Besuch abgestattet. Möchten Sie sie noch einmal bei Tageslicht sehen?“
Erik spürte nicht das leiseste Verlangen, die Kirche noch einmal zu betreten, aber er wollte nicht unhöflich erscheinen. „Gern“, sagte er .
Sie betraten das Kirchenschiff. Diffuses Tageslicht fiel durch Buntglasfenster ins Innere der Kirche. Neben der Eingangspforte stand ein Metalltisch, auf dem Opferkerzen aufgereiht waren. Keine davon brannte. Sie gingen den Mittel gang hinunter auf den Altar zu.
„Warum ist es so kalt hier?“, fragte Erik und schlang sich die Arme um den Körper. „Hier drin i st es kälter als draußen.“ Seine Worte kondensierten zu weißen Wölkchen in der Luft.
„Kalt wie ein Grab im Gletscher“, sagte der Pfarrer und lachte tonlos. „Der alte Ofen macht uns seit Jahren Probleme.“
„Halten Sie noch die Messe?“, fragte Erik.
Der Pfarrer schüttelte den Kopf. „Leider bin ich dazu seit einigen Monaten nicht mehr in der Lage. Meine Lunge macht mir mehr Ärger, als sie wert ist.“ Er schien eine Weile zu überlegen, ehe er fortfuhr. „Die Diözese hat schon vor Jahren versprochen, einen Pfarrer nach Thannsüß zu schicken, der meine Stelle einnehmen sollte. Aber bis heute hat sich keiner hier blicken lassen. Man kann es niemandem verdenken. Wer kommt schon freiwillig hierher?“ Der Pfarrer sah ihn an und lächelte vielsagend.
Erik blickte zu Boden.
Kapitel 7
Sie standen draußen auf dem Kirchplatz und versuchten, die Kälte abzuschütteln. Hinter ihnen fiel die Kirchentüre scheppernd ins Schloss.
Der Pfarrer klopfte ihm auf die Schulter. „ Kommen Sie, Erik. Es wird langsam Zeit. Habe ich erwähnt, dass man uns auf Benedikts Hof erwartet?“
Erik nickte.
Im Tageslicht leuchteten die Augen des Pfarrers hellgrün. „Benedikt feiert heute seinen fünfundsechzigsten Geburtstag. Es wird ein herrliches Fest werden! Geben Sie mir Ihren Arm, und laufen Sie nicht so schnell, ich bin ein alter Mann.“
Sie setzten sich gemeinsam in Bewegung und verließen den Kirchhof durch das offene Gatter. Die Hauptstraße von Thannsüß schlängelte sich an der Flanke des Großen Kirchners entlang und wies eine leichte Steigung auf. Unter einer Schicht aus Schotter kam die blanke Erde zum
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