Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Nacht kroch ein vergessen geglaubter Dämon aus den Tiefen seiner Seele empor, um ihn zu quälen. Es war der Dämon seiner Jugend im Zeichen des Hakenkreuzes, und er kam in Gestalt seines Bruders Hendrik.
„Hallo, großer Bruder“, sagte Hendrik. Er trug dieselbe Kleidung, die er am Tage seines Todes getragen hatte, dem Tag, an dem die alliierten Panzer München erreicht hatten.
Die braune Stoffhose war abgetragen und an den Knien aufgewetzt. Die Ärmel seines grauen Pullovers waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Darüber trug er eine ausgebleichte blaue Strickweste.
Erik zog sich die Daunendecke über den Kopf.
Aber Hendrik verschwand nicht. „Erik“, sagte er.
„Geh weg“, flüsterte Erik in die Wärme und die Dunkelheit vor seinem Gesicht. Er spürte, wie die Decke langsam weggezogen wurde.
„Versteck dich nicht vor mir, großer Bruder“, sagte Hendrik mit tonloser Stimme.
„Aber du machst mir Angst.“
„Ich kenne die Angst. Welch unglaubliche Angst ich hatte! Es war mehr, als ich ertragen konnte. Wenn das Feuer mich nicht getötet hätte, die Angst hätte es ganz sicher getan.“
„Was willst du von mir?“, flüsterte Erik.
„Eine Antwort. Warum hast du mich allein gelassen?“
„Du hättest dasselbe getan, wärst du an meiner Stelle gewesen.“
„Glaubst du das?“
Erik schwieg. Die eine Hälfte des Gesichts seines Bruders wurde vom Schein des Kaminfeuers in unstetes Licht getaucht. Die andere Hälfte lag im Schatten. Eine Traurigkeit lag in Hendriks Zügen, die Eriks Herz zusammenschnürte wie ein Stahlseil. „Ich konnte dich nicht retten“, flüsterte Erik. „Wir wären beide gestorben.“
„Ist es das, was du dir selbst erzählst? Es muss furchtbar sein, sich Tag für Tag diese leeren Worte aufzusagen.“
„Aber mich trifft keine Schuld!“
„Ist das wahr? Oder belügst du dich am Ende nur selbst?“
Erik schluckte. „Wir wären beide gestorben“, wiederholte er so leise, dass niemand außer ihm selbst es hörte. Eine Träne lief langsam an seiner Wange hinab.
Hendrik trat ans Fußende des Bettes und blickte traurig auf ihn hinunter. „Was kann es Schrecklicheres geben, als ein Leben lang eine Schuld mit sich zu tragen, die nie gesühnt wird? Ohne gerechte Strafe geht man am eigenen Verbrechen zugrunde.“
Tränen sammelten sich in Eriks Augen wie Wasser in einer Schale, und dann lief die Schale über, und die Tränen strömten seine Wangen hinab und tränkten das Kissen.
„Warum weinst du?“, fragte Hendrik interessiert. „Warum weinst du, wo dich doch keine Schuld trifft?“
„Ich konnte dich nicht retten!“, schrie Erik.
„Du hast es nicht einmal versucht.“
„Ich konnte es nicht!“ Schluchzer schüttelten Eriks Körper wie Sturmböen das Geäst der Bäume. „Verzeih mir, Hendrik.“
Hendrik breitete die Arme aus. „Wie könnte ich dir das jemals verzeihen?“ Eine Walze aus Feuer raste über seinen Körper hinweg. Sie sengte ihm in Sekundenschnelle die Kleidung vom Leib. Das lange blonde Haar brannte lichterloh. Seine Haut warf Blasen und wurde schwarz wie Kohle. Die Gläser seiner Brille zerplatzten, das runde Metallgestell verschmolz mit seinem Schädel. Dann schälte ihm die Hitze das Fleisch von den Knochen. Im nächsten Moment setzten die Flammen das gesamte Gästehaus in Brand: die Wände, die Decke, die Möbel, das Bett. Erik schrie und presste sich die Hände vor die Augen.
Als sein Schrei verstummte, war auch das Prasseln des Feuers verklungen. Die sengende Hitze war eisiger Kälte gewichen. Erik nahm die Hände von seinen Augen und blickte sich um. Die Wände des Gästehauses waren verschwunden. Hendrik war fort. Erik lag nackt auf dem Gletscher. Der Wind peitschte Schnee und Eiskristalle über die weite Ebene, deren Ränder in den Wolken verschwanden.
„Junge“, sagte eine tiefe und nur mühsam beherrschte Stimme hinter ihm, die ihm nur allzu vertraut war. „Du hast nichts als Schande über diese Familie gebracht.“
Erik fuhr herum und sprang auf. Vor ihm stand sein Vater. Theodor Strauss trug dieselbe Uniform wie auf dem Bild in Eriks Uhr. In der rechten Hand hielt er einen Ledergürtel, in der linken eine fast leere Schnapsflasche. Der Wind gewann plötzlich an Stärke, und Erik musste sich mit aller Gewalt gegen die heftigen, peitschenden Böen stemmen, um sein Gleichgewicht zu halten. Theodor Strauss schien es nicht einmal zu bemerken.
„Komm her, Junge.“ Theodor Strauss hielt sich die Flasche an den Mund und
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