Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Situation zu absurd erscheint, um sie mit rationalem Denken bewältigen zu können: Er lachte. Er lachte so lange, bi s ihm die Tränen kamen.
Konrad schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Schlag schleuderte Erik auf den Fußboden, wo er keuchend liegen blieb. In seinem Mund mischte sich saurer Speichel mit heißem Blut. Sein Gehirn versuchte fieberhaft, das Gesehene zu verarbeiten. Bilder huschten vor seinem inneren Auge vorüber wie Schatten, die vor dem Licht flohen: ein Bein, das in einem grotesken Winkel vom Körper abstand. Knochen, die sich durch die Haut bohrten, als wäre sie aus Papier. Ein Arm, der rot und fleischig über die Bettkante hing. Ein Brustkorb, der so flach gedrückt war wie eines der Bretter, die Erik aus dem Boden des Klassenraums gerissen hatte. Eine einzelne Rippe, die daraus empor ragte wie ein rostiger Nagel. Ein Schädel, der nur noch aus einer Hälfte zu bestehen schien. Und dann das Blut, all das Blut. Eine allumfassende Röte spülte über ihn hinweg und riss jeden klaren Gedanken mit sich fort.
Als Erik erwachte, wusste er für einen Moment nicht, wo er war. Er presste die Lider zusammen. Als er sie wieder öffnete, schälte sich aus dem Schleier vor seinen Augen das Innere des Gästehauses. Die Lampen auf dem Nachtkästchen und auf dem Esstisch brannten. Ein Feuer prasselte im Kamin. Neben seinem Bett stand der Pfarrer und sah mit sorgenvoller Miene auf ihn herunter. „Wie geht es Ihnen?“
„Was ist passiert?“
„Nun, woran erinnern Sie sich?“
Erik versuchte sich zu konzentrieren. Seine Gedanken waren trüb und verschwommen, als wäre sein Schädel mit Wasser geflutet. Oder mit etwas anderem, dickerem, dunklerem. Erinnerungsbruchstücke trieben hinter seinen Augen vorbei, aber sie entzogen sich seinem Zugriff. Er richtete sich auf und legte seinen schmerzenden Kopf in seine Handflächen. „Ich habe Sie gesucht“, sagte er schließlich. „Sie und Anna. Aber Sie waren nicht da.“ Er schwieg und versuchte, die trudelnden Gedankenfetzen zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. „Ich bin zum Marktplatz gelaufen, und dann zu Konrads Haus. Ich habe Stimmen gehört und bin ins Obergeschoss gegangen. Und dann ... Da war Blut, soviel Blut!“ Er schüttelte wie betäubt den Kopf. Die Bilder, die vor seinem inneren Auge auftauchten, waren rot und furchtbar. „Die alte Frau … Konrads Mutter? Nein, nicht seine Mutter … sie war … sie war …“
„Ja.“ Der Pfarrer ließ seinen angehaltenen Atem in einem langen Seufzer entweichen. „Mathilda ist tot.“ Er schloss kurz die Augen, ehe er fortfuhr. „Mathilda war die Mutter von Konrads ehemaliger Frau, die Großmutter seiner beiden Kinder. Sie war ein geschätztes Mitglied unserer Gemeinde. Das Alter hatte ihren Geist verwirrt, aber sie war eine gute Seele. Wir werden sie schmerzlich vermissen. Ihr Herz hat einfach ausgesetzt.“ Er legte sich eine Hand auf die Brust. „Einfach so. Sie hat es vermutlich nicht einmal bemerkt. Ein sanfter Tod.“
„Wovon sprechen Sie?“, fragte Erik verwirrt. „Ihr Herz hat ausgesetzt? Während sie schlief?“ Erik schnaubte ungläubig. „Sie war zerquetscht!“, rief er. „Sie sah aus, als hätte ein Mühlstein sie überrollt!“
„Ich kann Ihnen nicht folgen, Erik“, sagte der Pfarrer ruhig. „Ein Mühlstein? In ihrem Zimmer, in ihrem völlig intakten Bett?“
„Haben Sie die Wände nicht gesehen? Meine Güte, die Wände waren über und über mit Blut bespritzt!“
Der Pfarrer sah ihn streng an. „Ich weiß nicht, was Sie glauben, gesehen zu haben, Erik. Aber Mathilda starb an Herzversagen. Da war nicht ein Tropfen Blut.“
„Ich weiß, was ich gesehen habe!“, schrie Erik. Die Bilder des zerstörten Körpers blitzten in der Dunkelheit hinter seinen Lidern auf wie Flakgeschosse am nächtlichen Himmel.
„Ich war selbst dort“, rief der Pfarrer. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen! Genauso wie Anna, Konrad, Benedikt und mehr als dreißig weitere Zeugen, Erik. Selbst Lothar war anwesend.“
„Hallo, Erik.“ Lothar Brant trat aus dem Schatten und beugte sich über das Bett. Der Kummer hatte tiefe Linien in sein weiches Gesicht geschnitten. „Was immer es war, was Sie zu sehen geglaubt haben, vergessen Sie es. Es ist besser so.“ Lothar legte eine kühle Hand auf seine Stirn. „Ich weiß nicht, was es war, das Sie so erschreckt hat.“ Er biss die Lippen aufeinander. „Sie hatten einen Nervenzusammenbruch, nicht wahr? Wir mussten Ihnen
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