Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
ein Beruhigungsmittel geben. Anna versteht etwas von diesen Dingen. Sie haben den ganzen Tag verschlafen.“
Der Pfarrer bedeutete Lothar mit einer Handbewegung, sich zurückzuziehen, und Lothar ging leise hinaus.
„Sie kamen plötzlich ins Zimmer gestürzt.“ Der Pfarrer schüttelte den Kopf. „Sie haben geschrien und gelacht, als hätten Sie den Verstand verloren.“ Er seufzte. „Hören Sie, Erik, ich vermute, dass der Stress der Reise, all die neuen Eindrücke und die viele Arbeit im Klassenraum Sie mehr angestrengt haben, als Sie selbst sich vielleicht eingestehen möchten. Ihre Nerven sind überreizt!“
Thomas Hellermanns Worte klangen vernünftig. Seine Sorge schien echt. Erik wollte ihm glauben, und dennoch konnte er es nicht. Er wusste, was er gesehen hatte. „Ich will noch einmal hin“, sagte er. „Jetzt gleich.“
Der Pfarrer legte die Stirn in Falten. „Bei aller Freundschaft, Erik, das ist pietätlos.“
„Bitte, Thomas. Ich zweifle an meinem Verstand!“
Der Pfarrer legte den Kopf schief. „In Ordnung“, sagte er dann. „Gleich morgen früh werden wir hingehen.“
„Ich will jetzt gehen.“
„Haben Sie eine Ahnung, wie spät es ist? Es ist nach zwölf, mitten in der Nacht. Sie haben lange geschlafen. Außerdem sind Sie noch zu schwach. Wir gehen morgen.“
Erik ließ sich erschöpft zurück aufs Bett fallen.
Der Pfarrer ging zur Tür. „Auf dem Tisch steht etwas Essen für Sie, falls Sie noch einmal aufwachen und Hunger bekommen. Machen Sie sich keine Sorgen, Erik. Das wird schon wieder.“ Der Pfarrer versuchte zu lächeln, aber die Erschöpfung saß zu tief. Dann war er fort.
Erik lauschte den Schritten des Pfarrers, die sich über den Hof entfernten. Langsam zogen ihn die Beruhigungsmittel, die noch immer durch seinen Organismus strömten, zurück in die gnädige Dunkelheit eines tiefen, traumlosen Schlafs.
Kapitel 19
Später öffnete er die Augen in der Dunkelheit. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt. Sein Kopf schmerzte, sein Mund war trocken und ihm war übel. Die Kälte der Herbstnacht war durch die verzogenen Fenster und durch verborgene Spalten ins Innere des Gästehauses gedrungen. Erik schlug die Bettdecke zurück, schlang sich die Arme um den Oberkörper und stand auf. Er taumelte und stützte sich am Bettpfosten ab. Blut hämmerte in seinen Ohren. Das Zimmer schwankte unter seinen Füßen wie ein Floß auf offener See. Helle Flecken tanzten durchs Halbdunkel. Er presste die Augenlider zusammen. Als er sie wieder öffnete, verblassten die Flecken langsam. Er verfluchte die Kräuter, die sie ihm gegeben hatten. Für eine Weile stand er bewegungslos im Zimmer. Der Raum schien langsam vor und zurück zu pendeln. Nach einigen Minuten ließ die Bewegung nach.
Das ist Wahnsinn , sagte eine Stimme in ihm. Was zur Hölle tust du? Er brachte die Stimme zum Schweigen. Ich muss Gewissheit haben , dachte er. Ich muss es mit meinen eigenen Augen sehen.
Er zog sich rasch an. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es kurz nach halb vier war. Er hatte noch zwei Stunden bis zur Morgendämmerung. Er zog seinen Mantel über und schlang sich den Riemen der ledernen Umhängetasche um die Schulter. Dann nahm er die Petroleumlampe vom Tisch, blies die Flamme aus und verstaute die Lampe in der Tasche. Sie war heiß, und er fluchte, als er si ch die Finger daran verbrannte.
Er drückte vorsichtig die Eingangstür auf, blieb eine Weile im Türrahmen stehen und lauschte.
Das Rauschen der Bäume. Das Rascheln der letzten Blätter. Und von Ferne das leise Heulen des Windes über dem Gletscher wie ein Seufzer.
Er spähte hinaus in die Finsternis, ließ seine Augen langsam über den Pfarrhof wandern. Am Gatter zur Hauptstraße verharrten sie einen Moment, aber die gehörnten Gestalten, die er dort vor wenigen Nächten zu sehen geglaubt hatte, waren fort. Falls sie überhaupt jemals hier waren, dachte er.
Erik trat auf den Pfarrhof hinaus. Der Gipfel des Großen Kirchners war im Mondlicht nicht mehr als ein schwarzer Schemen. Aber dort, wo die Schwärze des Gipfels endete, leuchteten die Sterne so hell, wie Erik sie noch nie hatte leuchten sehen. Sie strahlten wie Diamanten auf schwarzem Samt. Die Milchstraße zog sich über den Himmel wie ein hauchdünnes Tuch aus weißer Seide. Erik musste sich dazu zwingen, den Blick abzuwenden.
Die Fenster des Pfarrhauses waren dunkel. Er lief geduckt über den Kirchhof zur Hauptstraße. Dann fiel ihm auf, wie verdächtig seine geduckte
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