Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
frische und klare Luft ein.
Die Geschehnisse der letzten Nacht schienen ihm mit einem Mal fern und unwirklich. Einmal drehte er sich um und blickte zum Dorf zurück. Es lag braun und trostlos und still unter der mächtigen Felswand des Großen Kirchners, verdunkelt vom Sch atten des Gipfels.
Und was , fragte er sich selbst, wenn das alles nur ein Traum ist? Du träumst nur, und gleich wirst du aufwachen. Du wirst noch immer in München sein. Marie wird neben dir liegen, ihr Körper warm, ihr Atem an deinem Hals.
Aber dies war kein Traum, und er würde nicht aufwachen, und München war nicht mehr als eine Erinnerung, ein Stück Treibgut, das hinter ihm langsam in den Fluten versank. Er seufzte und schloss die Augen. Er roch die Erde der Felder und den Duft der gemähten Halme. Schließlich ging er weiter. Lange bevor er die Mühle erreichte, hörte er das Knarren ihrer Flügel, die sich träge im Wind drehten.
Er setzte sich ins Gras und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand der Mühle. Die Sonne hatte die Steine aufgewärmt. Einige Meter entfernt erstreckte sich ein länglicher Grashügel. Er betrachtete ihn nachdenklich. Er dachte an die Geschichte, die der Pfarrer ihm erzählt hatte, und an jene Nacht, in der Benedikt zwanzig deutsche Soldaten getötet hatte. Er fragte sich, wie viel davon wahr und wie viel erfunden war.
Einige Minuten saß er einfach nur da und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Er versuchte, nicht an die Ereignisse der vergangenen Nacht zu denken, und auch nicht an die Dinge, die er in Mathildas Zimmer gesehen hatte. Im hellen Tageslicht erschienen sie ihm surreal, wie die Bruchstücke eines nächtlichen Alptraums. Aber dann dachte er an Benedikts Fest und den freundlichen Empfang, den man ihm in Thannsüß bereitet hatte. Und je länger er darüber nachgrübelte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, Zeuge einer sorgfältig inszenierten Theateraufführung geworden zu sein. All die lächelnden Gesichter zogen an seinem inneren Auge vorüber. Unzählige nach oben gezogene Lippen entblößten dahinter verborgene Zähne. Du tust ihnen Unrecht , dachte er. Sie haben dich freundlich empfangen, das ist alles.
Er zog die Tasche zu sich heran und nahm die Bierflasche und die Brotzeit heraus. Das Bier war noch kalt, und es schmeckte köstlich zu dem würzigen Braten, den Anna ihm eingepackt hatte. Danach fühlte er sich satt und zufrieden. Er zündete sich eine Zigarette an, kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick über die Häuser von Thannsüß gleiten, und dann den Gipfel des Großen Kirchners hinauf. Aus der Entfernung erschien ihm der Gletscher umso beeindruckender. Seine Eismassen wölbten sich über die Kante des Gipfels wie ein gefrorener Wasserfall, der an seinem Scheitelpunkt erstarrt war und sich weigerte, den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen. Aus seiner jetzigen Perspektive sah Erik zum ersten Mal, dass der Gipfel des Großen Kirchners, den er für den höchsten Punkt gehalten hatte, in Wahrheit nur ein kleinerer, vorgelagerter Gipfel war, hinter dem das Gebirge weiter in den Himmel vorstieß. Von dort wälzten sich die Eismassen des Gletschers hinab, um sich auf dem Großen Kirchner zu jenem gigantischen Überhang zu sammeln.
Er macht dir Angst, nicht wahr?
Ja , dachte er, er macht mir Angst.
Und dennoch verspürte er in diesem Moment stärker als jemals zuvor den Wunsch, den Gletscher endlich zu betreten und dort oben auf dem Überhang zu stehen, wo die Gesetze der Natur keine Gültigkeit zu haben schienen. Er sah so lange zum Gipfel des Großen Kirchners auf, bis seine Augen müde wurden. Er ließ sich an der warmen Wand entlang zu Boden sinken, bis er auf den Ellenbogen zum Liegen kam. Er schloss die Augen. Wer weiß, wann es jemals wieder so schön werden wird , dachte er. So still, so warm.
Sein eigener Schrei weckte ihn. Sein Herz hämmerte wie wild in seiner Brust, und einen Moment lang wusste er nicht, wo er war. Aber dann sah er die Häuser von Thannsüß in der Ferne und spürte die warmen Steine der Mühle in seinem Rücken. Du hast nur geträumt , sagte er sich selbst. Da war ein Mann, ein Mann auf dem Gletscher. Und die Spalten, tief und dunkel. Bodenlos und kalt, so kalt.
Er versuchte die Erinnerung an den Traum festzuhalten, doch sie entzog sich seinem tast enden Griff wie ein Nebelhauch.
Schließlich warf er einen Blick auf seine Uhr und sah, dass es bereits kurz nach drei war. Er stand auf und schlang sich die Umhängetasche über die
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