Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Erik. Sie haben sich so gut eingelebt bei uns. Ich will nicht, dass man Sie fortschickt!“
„Ich habe nicht vor, zu gehen, Anna.“
„Dann machen Sie den Herrn Pfarrer nicht zornig! Er mag Sie auch, deshalb ist es ja so schlimm für ihn.“
„Glauben Sie mir, ich wollte ihn nicht zornig machen.“
Anna wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen, schnäuzte sich noch einmal und verstaute es in ihrer Tasche. „Und Benedikt“, sagte sie dann sehr leise und senkte den Blick auf ihren Teller, „Benedikt sollten Sie auch nicht zornig machen.“
Die Uhren schlugen zur vollen Stunde, und Eriks Herz machte einen Satz.
„Meine Güte, ich werde zu spät kommen.“ Anna stand auf. „Brauchen Sie noch etwas, Erik?“
Er atmete tief durch. „Nein, danke. Ich werde tun, was der Herr Pfarrer mir geraten hat. Ich werde einen langen Spaziergang machen. Um den Kopf frei zu bekommen.“ Er erzählte Anna nicht, dass er die freie Zeit nutzen wollte, um seine Nachforschungen rund um das Verschwinden von Cornelius Piel wieder aufzunehmen. Er hatte es zu lange vor sich hergeschoben.
„ Gut. Dann warten Sie kurz hier, ich werde Ihnen eine Brotzeit richten.“ Die Wirtschafterin verschwand in der Speisekammer, ehe Erik protestieren konnte. Als sie zurückkam, reichte sie ihm ein in Butterbrotpapier geschlagenes Proviant-Päckchen. „Und hier ist noch ein Bier für Sie.“
„Danke sehr.“ Erik lächelte und klemmte sich seinen Proviant unter den Arm. „Nehmen Sie’s nicht so schwer, Anna. Das wird schon alles wieder.“
Sie presste die Lippen aufeinander. „Wenn Sie es sagen.“
„Ich sage es.“ Er verließ die Küche und lief über den Hof zum Gästehaus. Der Himmel war wolkenlos, und der Gletscher leuchtete hoch über ihm wie ein Kristall im Sonnenlicht.
Im Gästehaus packte er die Brotzeit in seiner Umhängetasche und steckte sein Klappmesser ein. Dann brach er auf. Er umrundete den merkwürdigen schwarzen Fleck, den die Fliegerbombe auf dem Pfarrhof hinterlassen hatte, und erreichte bald die Hauptstraße. Aber der stinkende Fleck rief einmal mehr die Erinnerung an jenes Datum in ihm wach, das seit seiner Ankunft in Thannsüß in einem dunklen Winkel seines Verstandes vor sich hin gearbeitet hatte wie eine Maschine, die man, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr abschalten kann. Ohne es zu wissen, hatte er im Laufe der letzten Tage und Wochen eine Entscheidung getroffen: Er musste mit dem Pfarrer über jene Nacht vor zwölf Jahren sprechen, in der eine Fliegerbombe über Thannsüß niederging, jene Nacht, in der ein Flugzeug über dem Gletscher abstürzte, jene Nacht, in der sein Vater spurlos verschwunden war, so als hätte die Erde sich aufgetan und ihn verschluckt. Er musste mit dem Pfarrer über den 19. April 1944 sprechen.
Auf dem Weg zum Marktplatz kamen ihm zahlreiche Einwohner entgegen. Sie waren alle in Schwarz gekleidet. Er blickte den Trauernden nach, während sie den schweren Gang zum Friedhof hinter dem Pfarrhaus antraten. Bei Lothars Haus bog er von der Hauptstraße ab und folgte dem schmalen Weg, der hinaus auf die Felder und bis zur Mühle auf dem Hügel vor dem Waldrand führte. Vielleicht würde er dort eine Spur von Cornelius Piel finden. Auch wenn er das Schicksal des jungen Pfarrers während der letzten arbeitsreichen Tage erfolgreich verdrängt hatte, so konnte er den Namen und das Bild, das er in Piels Pass gesehen hatte, doch nie vollständig aus seinem Bewusstsein verbannen. Und wenn es ihm während der Renovierung des Klassenraums mit der Zeit weniger schlimm vorgekommen war, seine Tage in Thannsüß am Fuße des Gletschers fristen zu müssen, ja wenn er tatsächlich so etwas wie Heimatgefühle entwickelt hatte, so hatten ihm die Ereignisse der letzten Nacht umso deutlicher vor Augen geführt, dass er von hier verschwinden musste, und das lieber heute als morgen. Etwas stimmte nicht mit diesem Ort, er spürte es. Er konnte den Finger nicht auf die Wunde legen, aber sie war da und zog und drückte und schmerzte, so wie sein Bein, wenn das Wetter umschlug.
Als er schließlich aus dem Schatten des Gipfels trat, spürte er die wärmenden Strahlen der Sonne auf seinem Körper. Gestern Nacht waren ihm der Weg und die Landschaft unheimlich erschienen. Jetzt empfand er sie als wundervoll. Er blieb einige Minuten im Sonnenschein stehen und genoss das angenehme Gefühl der Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete. Er ließ seinen Blick über das Land schweifen und atmete tief die
Weitere Kostenlose Bücher