Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
der Straße. Erik blieb stehen und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Er vergrub die Hände tiefer in den Taschen. Das Rascheln erklang erneut. Dann hörte er das leise Meckern einer Ziege. Die Kälte fuhr unter seine Kleidung wie ein Windstoß und brachte ihn zum Zittern. Er setzte sich in Bewegung, schneller als zuvor. Noch einmal erklang das Meckern hinter ihm, und es klang wie Gelächter. Erik hastete die Hauptstraße entlang zum Pfarrhof und sah nicht zurück. Als er das Gästehaus endlich erreicht hatte, schlug er die Tür hinter sich zu und schloss sie ab.
Er ließ sich erschöpft in den Sessel vor dem Kamin fallen und legte einige Scheite nach. Bald leckten die Flammen an dem trockenen Holz und krochen gierig daran empor. Er trank Rotwein, den Anna auf dem Esstisch bereitgestellt hatte, und rauchte eine Zigarette. Er spürte die Schwere des Alkohols in seinen Gliedern. Er lauschte auf die Geräusche des alten Hauses, auf den Wind, der um seine Mauern blies, und auf das Flüstern des Gletschers, der ihn zu sich zu rufen schien. Die Stimmen des Gletschers vereinten sich schließlich zu einer einzigen, und es war die Stimme seiner Frau Marie. Sie klang verzweifelt und flehte ihn an, sie zu retten, aber er wusste nicht, wovor er sie retten sollte, denn er war hier und sie war in München, weit weg, in Sicherheit. Schließlich verstummte Marie, und sein Vater sprach zu ihm. Seine Stimme war so warm und sanft und einlullend, wie er sie nie gekannt hatte. Sein Vater rief ihn zu sich. Er rief ihn auf den Gletscher.
Ich komme morgen zu dir , dachte er müde. Morgen schon.
Irgendwann stand er schwerfällig auf und vergewisserte sich, dass die Tür des Gästehauses abgeschlossen war. Er sah aus dem Fenster. Auf dem Pfarrhof standen zwei dunkle Gestalten. Er erkannte sie sofort. Sie waren schon einmal dort draußen gestanden, am Gatter zur Hauptstraße. Sie waren näher gekommen. Diesmal standen sie mitten auf dem Pfarrhof, keine zehn Meter vom Gästehaus entfernt. Im kalten Licht der Sterne erkannte er, dass das, was er zunächst für deformierte Schädel gehalten hatte, in Wahrheit furchterregende hölzerne Masken waren, die ihre Gesichter verbargen.
Die kleinere, kräftigere der beiden Gestalten trug eine kunstvoll bemalte Teufelsmaske. Schwarze Lippen entblößten riesige Zähne in einem blutroten Maul. Die Augen waren schwarze Höhlen. An den Schläfen wanden sich zwei lange Hörner in die Luft. Die zweite Gestalt war größer und dünner als die erste, und ihre Maske war noch furchteinflößender. Sie war in Form eines Geißbockschädels geschnitzt, langgezogen und am Kiefer zersplittert, der Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen. Geschwungene Hörner erwuchsen aus dem Schädel bis weit hinter die Schultern der Gestalt.
Erik hielt den Atem an. Sein Herz hämmerte laut in seiner Brust. Er fuhr sich mit einer zitternden Hand über den Mund. Die Gestalten rührten sich nicht. „Was zur Hölle wollt ihr von mir?“, flüsterte er. Und mit einem Mal kochte eine rasende Wut in ihm hoch, und sie war stärker als seine Angst, verdrängte sie, löschte sie aus. Er griff sich die Petroleumlampe und sein Messer vom Tisch, entriegelte die Tür des Gästehauses und riss sie auf. „Was wollt ihr von mir?“, schrie er. Er hielt die Lampe hoch über seinen Kopf, schickte ihr Licht weit auf den Pfarrhof hinaus.
Aber der Pfarrhof war leer.
„Zeigt euch, ihr feigen Schweine“, flüsterte er.
Er blieb lange in der geöffneten Tür des Gästehauses stehen und ließ seinen Blick wieder und wieder über den Hof schweifen. Doch die Gestalten blieben verschwunden. Er war allein.
Später ging er zu Bett, und er träumte vom Gletscher. Auf der Suche nach dem verschollenen Flugzeug seines Vaters irrte er durch die labyrinthartigen Stollen und Höhlen und Spalten im Eis. Er hatte sich verlaufen. Er spürte keine Kälte. Plötzlich durchlief eine Erschütterung den Gletscher. Sie war so stark, dass sie ihn zu Boden warf. Dann hob sich das Eis, und was einen Augenblick zuvor noch ein ebenerdiger Gang gewesen war, verwandelte sich in einen steilen Abhang. Er rutschte rückwärts über das Eis, schneller und schneller, doch seine Hände, die verzweifelt nach Halt suchten, griffen ins Leere. Er fiel ins Bodenlose, und nur am Rande registrierte er, dass der gesamte Gletscher in Bewegung war. Er stürzte, und Tausende Tonnen Eis stürzten mit ihm. Er schrie. Kurz bevor er aufschlug, erwachte er.
Kapitel 2 3
Erik
Weitere Kostenlose Bücher