Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
blieb stehen und ließ seinen Blick über die Ebene schweifen, die jetzt weit unter ihnen lag. Sein Atem kondensierte in der klaren, kalten Luft. Das Blau des Himmels war strahlend und tief.
Sie liefen schon seit Stunden im Schatten des Gipfels, doch die Sonne hatte ihren höchsten Stand noch nicht erreicht. Sie waren im Morgengrauen aufgebrochen. Inzwischen war es fast zehn Uhr. Sie waren der Dorfstraße bis zu Benedikts Hof gefolgt und von dort auf den alten Schafspfaden in den Tannenwald vorgedrungen, bis sie nach etwa zwei Kilometern die Gletschermoräne erreicht hatten. Aus dem trostlosen Geröllfeld erhob sich meterhoch und dreckverkrustet die linke Eiszunge des Grimboldgletschers. Vom Gipfel des Großen Kirchners wand sie sich kilometerweit hinab, ein weißes und anmutig schillerndes Band, das die Erde mit dem Himmel zu vereinen schien. Doch je näher man diesem Band kam, desto klarer sah man, dass seine Anmut nur schöner Schein war, dass es in Wahrheit vernarbt und schmutzig war, dass Steine und Dreck das Eis umhüllten wie ein schäbiger Mantel. Aber der Mantel war zerfetzt und löchrig, und darunter leuchtete das Eis türkisfarben hervor wie Edelsteine im Sonnenlicht. Am Ende der Gletscherzunge gähnte das Gletschertor wie ein riesiges Maul, glitzernd, feucht und strahlend hell an den Rändern, schwarz im Inneren. Weiß und schäumend sprudelte der Schmelzwasserfluss daraus hervor. Sein Bett teilte die Ebene in zwei Hälften. Erik war kaum Zeit geblieben, den Anblick in sich aufzunehmen, denn Xaver Wrede hatte ihn unerbittlich vorwärtsgetrieben.
Neben dem Gletschertor hatten sie eine flache Stelle gefunden, die für den Aufstieg geeignet schien, und begleitet vom Tosen und Rauschen des Schmelzwasserflusses hatte Erik zum ersten Mal einen Fuß auf den Rücken des Grimboldgletschers gesetzt. Er hatte erwartet, dass das Lärmen widerstreitender Gefühle in ihm sich legen würde, sobald er den Grimbold betrat. Er hatte auf eine reine Empfindung gehofft, die Ordnung in das Chaos brachte, auf einen klaren Gedanken, der ihm sagte, was zu tun sei. Aber da war nichts. Nur eine kalte, dunkle Leere in seinem Inneren, die gefüllt werden wollte. Er hatte innegehalten und mit geschlossenen Augen auf das Flüstern des Gletschers gelauscht. Aber alles, was er gehört hatte, war das Heulen des Windes auf dem rauen Eis und das Rauschen des Schmelzwassers. Und dann hatte ihn Xaver Wredes Stimme in seinem Rücken ermahnt, verdammt noch mal nicht im Gehen einzuschlafen, und sie hatten ihren langen Aufstieg über die linke Eiszunge des Gletschers begonnen.
Und je höher sie stiegen, desto reiner wurde das Eis unter ihren Füßen, desto heller strahlte der Gletscher und desto bizarrer wurden die Eisformationen, die rechts und links an ihnen vorüberglitten wie groteske Traumgebilde.
Als er sich jetzt zu Xaver Wrede umdrehte, knirschte der Schnee unter seinen Füßen. „Der Blick ist atemberaubend“, sagte er. „Ich weiß nicht, wann ich zuletzt etwas so Schönes gesehen habe.“
Wrede grunzte und ließ seine Augen über die fernen Gipfel am Horizont wandern. Er atmete schwer, und Erik stellte erschrocken fest, wie erschöpft er aussah. Sein Gesicht wirkte wächsern. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er wischte ihn mit seinem Handschuh ab und erwiderte zornig Eriks Blick. „Was glotzen Sie so?“, fragte er.
„Sie sehen müde aus.“
„Wenn Sie nicht so herumtrödeln würden, könnten wir schon auf dem Gipfel sein. Gegen Mittag wird der Gletscher unberechenbar. Der Boden schmilzt uns unter den Füßen weg. Wir müssen uns beeilen.“
„Wie geht es Ihrer Hand?“
„Gut genug.“
„Zeigen Sie mal her.“
Wrede seufzte und zog den Handschuh aus. Darunter kam die bandagierte Hand zum Vorschein. Der Verband war feucht und rot. Xaver Wrede ballte die Hand zur Faust und verzog angewidert das Gesicht.
„Das sieht nicht gut aus“, sagte Erik. „Nehmen Sie den Verband ab.“
Xaver Wredes Kiefer mahlten aufeinander. „Sie gehen mir langsam auf die Nerven, Lehrer“, sagte er.
„Stellen Sie sich nicht so an.“
Wrede schüttelte den Kopf, stieß ein Schnauben aus und löste den Verband. Er streckte Erik die rote, geschwollene Hand hin. Die Stelle, wo der Nagel die Haut aufgerissen hatte, war nicht verheilt. Die Wunde wirkte frisch und roh. Eiter hatte sich darin gesammelt.
„Die Wunde hat sich entzündet“, sagte Erik. „Sie müssen zu einem Arzt gehen. Am besten sofort. Wollen Sie
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