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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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umkehren?“
    „Vergessen Sie’s. Ich gehe zu keinem Quacksalber.“
    „Aber jemand muss die Wunde säubern und neue Verbände anlegen. Vielleicht brauchen sie Penicillin !“
    „Sie reden wie meine Frau.“
    „Ich meine es ernst, Xaver.“
    „Ich auch. Ich gehe zu keinem verdammten Arzt. Und jetzt tun Sie mir einen Gefallen und kümmern Sie sich wieder um Ihren eigenen Kram.“ Er wickelte den klebrigen Verband erneut um seine Hand und zog den Handschuh darüber. „Es ist noch eine Stunde bis zum Gipfel. Eine halbe, wenn wir uns beeilen.“
    „Dann los“, sagte Erik.
    „Ziehen Sie Ihre Schneeschuhe an.“ Wrede klang erschöpft. „Ab jetzt wird es anstrengend.“
    Sie schnallten die Schneeschuhe ab, die sie auf dem Rücken trugen, und befestigten sie unter ihren Schuhen. Erik machte einige unsichere Schritte. Die Schneeschuhe erinnerten ihn an zu groß geratene Tennisschläger. Auf den mit Sehnen und Fellen bespannten Holzgestellen zu laufen war ungewohnt und mühsam. Aber es war weniger anstrengend, als bei jedem Schritt bis zu den Knien im Schnee zu versinken, dessen eisverkrustete Oberfläche unter ihrem Gewicht zerbrach wie dünnes Glas.
     
    Die Eiszunge wurde jetzt mit jedem Meter, den sie schwer atmend zurücklegten, breiter. Das Grün der Tannen war längst unter ihnen zurückgeblieben. Dann waren die Büsche und Sträucher, danach die Wiesenblumen und bald auch die Wiesen selbst geschwunden, bis nur noch einige Grasinseln auf dem grauen Gestein zurückgeblieben waren. Doch nach und nach waren auch diese verschwunden, und wenig später hatte das Eis ihr gesamtes Blickfeld eingenommen. Inzwischen wusste Erik nicht mehr, ob sie sich noch immer auf der Zunge befanden oder bereits auf dem eigentlichen Gletscher. Aber noch stiegen sie bergan. Ihr Ziel war der flache Rücken des Gletschers. Erik wollte den Überhang erreichen, der über dem Dorf hing wie ein Sturzbach, der in der Zeit festgefroren war. Vielleicht klängen die Stimmen dort klarer. Vielleicht legte sich dort der Aufruhr in seinem Kopf. Und vielleicht könnte er endlich verstehen.
    Aber das war nicht der einzige Grund, der ihn auf den Grimbold getrieben hatte. Er wollte nach einem Flugzeug Ausschau halten, das vor zwölf Jahren im Eis verschollen war: Er wollte nach dem Flugzeug seines Vaters suchen. Und wenn das hieß, dass er den gesamten Gletscher überqueren, dass er vom Überhang bis zu den fernen, noch höheren Gipfeln steigen musste, von denen der Grimbold sich hinabwälzte wie ein gefrorener Ozean, dann würde er auch das tun.
     
    Schritt für Schritt erklommen sie die Flanke des Großen Kirchners, überstiegen kleine Risse im Eis und schlugen einen Bogen um die größeren Spalten. Sie durchquerten einen Eiskanal, an dessen Rändern sich Eisschollen hoch wie Häuser aufgetürmt hatten. Über ihnen wurde der strahlende Himmel von Schnee- und Eiswolken getrübt, die der Wind über die Kanten des Kanals jagte. Einmal verfing sich ein Windstoß darin und erzeugte einen Ton wie ein Nebelhorn, so schauerlich tief und dröhnend, dass Erik für einen Moment mit klopfendem Herzen stehen blieb.
    Dann verließen sie den Kanal und betraten einen bizarren Wald voll von glitzernden Eisbäumen, die aussahen, als hätten sich riesige Finger von unten durch das Eis gebohrt. Wrede trieb ihn zur Eile an. „Die Sonne wird bald ihren höchsten Punkt erreichen . Stehen Sie hier nicht herum.“
    Und dann schob sich die Sonne wirklich über den Rand des Gipfels, und mit einem Mal leuchtete der Gletscher mit einer solchen Intensität, dass Erik geblendet die Augen schloss. Nach einer Weile öffnete er sie zu engen Schlitzen und schirmte sie mit der Hand gegen die Helligkeit ab. Doch das Leuchten war so allgegenwärtig, dass es sich dennoch mühelos einen Weg in seinen Schädel bahnte. Die Konturen der Eislandschaft verblassten und lösten sich auf wie die Schrift auf einem Blatt Papier im Sonnenlicht. Die Eisformationen, der Horizont, die Hand, die er sich schützend vor Augen hielt: Alles brannte von den Rändern her aus und verschwand. Das Licht erzeugte ein merkwürdiges Gefühl in Eriks Kopf, das nach und nach zu einem hellen Klingeln hinter seiner Stirn kristallisierte.
    Xaver Wrede versetzte ihm einen Stoß. „Setzen Sie Ihre Sonnenbrille auf, Mann, sonst werden Sie schneeblind.“
    Nachdem Erik die Brille aus der Manteltasche geholt und aufgesetzt hatte, kehrten die Formen und Farben langsam in die Landschaft zurück, und das Klinge ln wurde

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