Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
leiser und schmolz, bis es nur mehr ein feiner Nadelstich hinter seiner Stirn, zwischen seinen Augen war.
Und schließlich kam der Moment, in dem Erik nicht mehr den steilen, schneebedeckten Hang vor sich sah, sondern nur noch das reine Blau des Himmels. Sturmböen peitschten Schnee und Eispartikel vor sich her. Erik hörte sie gegen seine Kleidung prasseln. Manchmal hob der Wind sie hoch in die Luft, und er spürte ihre Einschläge auf seinem Gesicht. Er band sich den Schal um Mund um Nase und zog sich die Wollmütze tief in die Stirn. Er drehte sich zu Xaver Wrede um. „Sollten wir jetzt nicht das Sicherungsseil anlegen?“
Xaver Wrede ging an ihm vorbei und betrachtete sein vermummtes Gesicht mit einem spöttischen Lächeln. „Achten Sie nur gut auf Ihre zarte Haut, Herr Lehrer. Den Rest erledige ich.“
„Alles klar, Rübezahl“, murmelte Erik.
„Was?“ Wrede war stehen geblieben.
„Ich sagte: Das mach ich dann mal.“
Xaver Wrede grunzte und marschierte weiter.
„Was ist mit dem Seil?“, rief Erik.
Wrede hob eine Hand und winkte ab. „Vergessen Sie das Seil. Ich kenne jeden Riss und jede Spalte und jede Schneewechte dieses verdammten Gletschers. Setzen Sie Ihre Füße dorthin, wohin ich meine setze, dann passiert Ihnen nichts.“
Erik seufzte und folgte ihm. Er platzierte seine Füße in den Abdrücken, die Xaver Wredes Schneeschuhe zurückließen.
Der Eispanzer des Grimbold war nicht glatt und eben, so wie Erik ihn in seinen Träumen gesehen hatte, sondern zerklüftet und aufgerissen. Tiefe Risse durchzogen den Rücken des Gletschers, so als habe eine unter dem Eis verborgene Kraft seine Haut von innen auseinander gerissen. Sie liefen eine langgezogene Rechtskurve. Zu ihrer Linken erstreckte sich der Gletscher kilometerweit. Der Eisrücken war durchzogen von riesigen, dunklen Spalten, deren Ränder im Sonnenlicht türkisfarben leuchteten. Zwischen den Spalten erhoben sich immer wieder meterhohe Türme aus Eis in den Himmel, wo die Bewegung des Gletschers die Oberfläche gesprengt und Platten und Trümmer übereinander geschoben hatte. In der Ferne stieg die Eisfläche steil an, floss gleich einem weiß schäumenden Strom von den Gipfeln herab, auf denen sie ihren Ursprung hatte.
Sie marschierten ohne Pause. Sie marschierten, bis Erik das Gefühl in seinen Beinen verloren hatte.
Plötzlich blieb Wrede stehen. Er wandte sich zu Erik um. „Da wären wir“, sagte er und deutete auf die Kante, hinter der die Welt zum Himmel wurde. „Vor uns liegt der Überhang. Was auch immer Sie hier wollen, machen Sie schnell. Wir haben nicht viel Zeit.“
Erik trat an Wrede vorbei an den Rand des Gletschers. Seine Augen schweiften über das Eis, erforschten jeden Riss und jede Erhebung. Dann glitt sein Blick über den Rand des Überhangs hinaus, saugte die ungeheure Tiefe und die dunklen Wälder, die Felder und Wiesen von Thannsüß, das Gebirge am Horizont und die zarten Wolkenschleier darüber auf, als wollte er Eriks Schädel damit zum Platzen bringen. Das Grün war so feucht und satt, das Braun und das Gelb waren so schwer und erdig, das Blau des Himmels war so rein und die Gipfel in der Ferne waren so strahlend weiß, dass Erik glaubte, die Gerüche des Landes, das sich weit unter ihm ausbreitete wie eine reich gedeckte Tafel, mit einem einzigen Atemzug für immer in sich aufnehmen zu können. Er holte tief Luft, breitete die Arme aus und trat einen Schritt nach vorn, bis ihn nur noch wenige Zentimeter vom Rand des Gletschers trennten. Er hob den Kopf zur Sonne.
„Gehen Sie nur“, sagte Xaver Wrede hinter ihm. „Er hat so lange gehalten, er wird noch eine Weile länger halten.“
Erik nahm die Worte am Rande seines Bewusstseins wahr, ohne wirklich zuzuhören. Wie konnte der Grund zu seinen Füßen sich so fest, so sicher, so ewig anfühlen, wenn doch alles, was ihn hielt, ein fragiles Gleichgewicht unbekannter Kräfte in seinem Inneren war?
Er überblickte das weite Land von Ost nach West, und die Schönheit, die sich ihm darbot, war so fremd und überwältigend, dass er sich auf das Eis setzte, schaute und staunte und schwieg. Unter ihm lagen klein und unbedeutend die Häuser von Thannsüß. Er erkannte in weiter Ferne die alte Mühle. Als er sich nach vorn beugte und den Kopf über den Rand des Gletschers schob, sah er den Marktplatz, das Postamt und die Schänke und sogar Lothars Haus. Er sah Benedikts riesigen Hof am fernen Ende des Ortes, und er sah die weiße Kirche und das
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