Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Pfarrhaus, den Pfarrhof und den hässlichen alten Fleck darauf fast genau unter sich. Daneben konnte er sogar das Gästehaus ausmachen. Inmitten der Felder zwischen dem Dorf und dem Waldrand erspähte er ein einsames Gebäude, und er wusste, dass es sich dabei um das Haus der Sonnleitners handelte. Vor gar nicht allzu langer Zeit war er in der Dunkelheit daran vorbeigelaufen, sein Körper schweißbedeckt, sein Herz voller Furcht.
„Wir müssen langsam los.“ Xaver Wrede klang ungeduldig.
Erik nickte abwesend und lauschte auf die Stimmen des Gletschers. Der Wind rauschte über das Eis wie der Atem eines Drachen. Die Eiskristalle flüsterten, während sie über den Gletscher schabten. Eriks Kleidung flatterte und knisterte, wenn der Wind sie packte und daran zerrte. Der Schnee knirschte unter Xaver Wredes Schneeschuhen, als er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Erik hörte das Zischen seines eigenen Atems, das Schlagen seines Herzens, das Pulsieren seines Blutes. Aber da waren keine Stimmen, und in seinem Kopf blieb es still.
Und plötzlich ertönte ein Krachen, so laut, dass es alle anderen Geräusche übertönte: ein Splittern und Bersten, als würde ein Baum gefällt – nur tausendfach verstärkt. Ein Ruck fuhr durch den Gletscher, ein dumpfes Grollen rollte heran. Ein Zittern durchlief das Eis, kroch Eriks Beine empor und endete als sanfte Schwingung in seiner Brust. Und in diesem Moment wusste er, dass sich irgendwo in der weiten Ebene des Grimbold eine neue Spalte geöffnet, ein weiterer bodenloser Abgrund aufgetan hatte.
Er sprang auf und sah sich erschrocken nach Xaver Wrede um. „Was war das?“, rief er. „War das der Gletscher?“
Wrede hatte sich abgewandt und blickte über die Ebene des Gletschers zu den fernen Gipfeln. „Das war das Eis“, sagte er nachdenklich. „Keine Sorge, es war weit genug entfernt. Aber wir sollten jetzt aufbrechen.“
„Ich will noch auf die Ebene.“
Wrede sah ihn ausdruckslos an. Dann nickte er müde. „Wir müssen uns beeilen.“ Xaver Wrede lief an einem haushohen Eisblock vorbei und hinaus auf die weiße, unendliche Weite des Gletschers.
Erik folgte ihm. Trotz der Sonnenbrille leuchtete der Gletscher so hell, dass die Konturen der Eisformationen vor seinen Augen verblassten. Er hielt den Blick auf den Boden geheftet, um wenigstens die Risse zu seinen Füßen erkennen zu können. Ab und an sah er auf, um Xaver Wredes Gestalt, die sich dunkel vom Eis abhob, nicht aus den Augen zu verlieren. Nachdem sie etwa dreißig Minuten schweigend über den Gletscher gelaufen waren, blieb Xaver Wrede stehen. Erik schloss keuchend zu ihm auf. Zwei Meter vor ihnen klaffte ein gähnender schwarzer Schlund im Eis, der an die zehn Meter breit war. Seine Länge konnte Erik nicht abschätzen. Der Abgrund schien den Rücken des Gletschers bis zum Horizont zu spalten.
„Hier ist Endstation“, sagte Xaver Wrede. „Es würde einen ganzen Tag dauern, den großen Graben zu umgehen.“
„Den großen Graben?“ Erik rang um Atem. Die Schneeschuhe machten ihm mehr zu schaffen, als er anfangs geglaubt hatte. Zudem schien der Schnee von Minute zu Minute schwerer zu werden: Die Mittagssonne schmolz sich durch die oberen Schichten und machte ihn feucht und klumpig.
„So nennen wir diese Spalte, immer schon, so lange ich mich erinnern kann. Der Graben ist so tief, dass man den Boden nicht sehen kann.“
„Vielleicht ist es einfach zu dunkel.“
„Sie können ja nachsehen, wenn sie wollen.“
In Xaver Wredes Stimme lag eine unausgesprochene Aufforderung, ein kaum hörbarer spöttischer Unterton, der alle Alarmglocken in Eriks Kopf zum Schrillen brachte. Er kannte diesen Tonfall. Er hatte ihn oft genug ertragen müssen. In diesem Moment klang Xaver Wrede wie sein Vater, und Erik hasste ihn dafür. In Wredes Augen sah er denselben Spott und dieselbe stumme Herausforderung, die er als Kind Tag für Tag ertragen hatte. Erik trat einen Schritt vor. Seine Schneeschuhe erzeugten ein saugendes Geräusch. Die Spalte schien an Größe zu gewinnen. Erik streckte sich, um einen Blick in die Tiefe erhaschen zu können.
Hinter ihm lachte Xaver Wrede leise.
Erik trat einen weiteren Schritt auf den Graben zu. Die Schwärze wuchs und griff nach ihm. „Geht ziemlich weit runter.“ Sein Hals fühlte sich trocken an.
„Und?“, fragte Wrede. „Können Sie den Boden sehen? Oder ist es einfach zu dunkel?“
„Ich weiß nicht“, flüsterte Erik. Er legte sich vorsichtig
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