Der Teufel in Thannsüß (German Edition)
Erwartung auf der anderen Seite. Diese beiden Jungen erleben heute das größte Abenteuer ihres Lebens. Sie ziehen in den Krieg.
Sie werden nicht nach Hause gehen an diesem Abend. Sie werden nicht der traurigen Stimme ihrer Mutter lauschen, die das Tischgebet spricht, vor dem Abendessen, und später, wenn die beiden Jungen zu Bett gehen, das Nachtgebet. Die Stimme ihrer Mutter wird heute ungehört in den leeren, kalten Räumen verklingen, wenn sie von ihrem Ehemann, dem Vater der beiden Jungen, erzählt, als könnte er jeden Moment zur Tür hereinkommen. Dabei wird er seit einem Jahr vermisst, und selbst die Nachbarn auf der Straße glauben zu wissen, dass Theodor Strauss niemals mehr durch diese Tür treten wird. Ihre Mutter würde sagen: „Ich wünschte, er wäre heute bei uns. Euer lieber Vater. Er ist ein guter Mensch, der seine schlechten Seiten hat.“
Denn das ist es, was sie immer sagt, wenn sie von ihm spricht; was sie wie ein Mantra vor sich herbetet. Ihre persönliche Zauberformel. Die Jungen wissen, dass sie ihn liebt, aber sie wissen auch, dass sie unter seiner Gewalttätigkeit leidet. Sie glaubt, ihn in Schutz nehmen zu müssen. Wegen der Dinge, die er manchmal tut, wenn er betrunken ist. Wegen dieser furchtbaren Dinge. Ihre Söhne würden ihr widersprechen, niemals lautstark, aber in Gedanken. Sie vermissen die guten Seiten ihres Vaters, aber sie verabscheuen die schlechten noch mehr. Doch sie fühlen den Schmerz der Mutter, und er zehrt an ihnen und höhlt sie langsam aus, so wie ein dünnes Rinnsal Wasser einen Stein aushöhlen kann.
An diesem Abend gehen sie nicht nach Hause. Ihr Weg führt sie in die entgegengesetzte Richtung, in die östlichen Vororte. Sie gehen durch eine kleine Seitenstraße, die von Fliegerbomben aufgewühlt ist. Manche der Krater sind so groß, dass sie nicht mitten durch können, sondern außen herum gehen müssen. Zwischen den vereinzelten Häusern am Straßenrand liegen riesige Berge aus Trümmern und Schutt. Die Häuser, die hier standen, sind über Nacht verschwunden. An der Hauptstraße steigen die beiden Jungen auf ihre Fahrräder und radeln los. Erik fährt voraus. Vorbei am Rosenheimer Platz und am Ostbahnhof bis zur Baumkirchner Straße, und dann hoch über Daglfing bis nach Johanneskirchen. Ab und zu wirft er einen kurzen Blick über die Schulter, um zu sehen, ob Hendrik mithalten kann. Wenn er sieht, dass Hendrik dicht hinter ihm ist, und das ist er immer, lächelt Erik. Sein kleiner Bruder ist hart im Nehmen. „Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl“, würde der Hauptmann sagen. Als sie ihr Ziel erreichen, ist bereits die Dunkelheit hereingebrochen.
Stundenlang sitzen sie zusammen mit drei anderen Jungen ihres Alters in einem aus den Trümmern zerbombter Häuser und einigen Holzlatten gezimmerten Verschlag. Man hat ihnen gesagt, es handle sich um einen Bunker, und sie glauben es. Sie warten darauf, dass etwas passiert. Sie warten auf die Panzer.
Abwechselnd starren sie durch die Schießscharten in die Nacht hinaus. Sie teilen sich ein paar Scheiben Brot, etwas Käse und Wurst. Dazu trinken sie Wasser aus zerbeulten Feldflaschen. Als die alliierten Panzer schließlich kommen, hören sie sie lange, bevor sie sie sehen. Das Dröhnen der schweren Motoren, das Rasseln ihrer Ketten. Hin und wieder brüllt ein Geschütz in der Ferne. Dann erhellt für den Bruchteil einer Sekunde ein Blitz die Dunkelheit vor dem Bunker. Ein Grollen rollt vom Horizont heran wie Donner. Eine Panzergranate pfeift durch die Luft, hell und laut wie eine Sirene. Dann der Einschlag, eine dumpfe Deto nation, kilometerweit entfernt.
Aber mit der Zeit kommen die Einschläge näher, und als schließlich eine Detonation die Wände des Bunkers zum Beben bringt und der Putz von der Decke rieselt, umklammern die Jungen ihre Gewehre fester. Sie wissen, dass sie mit ihren Gewehren nichts gegen die Panzer ausrichten können. Die Kugeln in den Gewehren sind für die Soldaten bestimmt, die hinter den Panzern laufen.
Aber sie haben eine Panzerfaust. Die Wunderwaffe, mit der sie die Heimatfront verteidigen und den Feind zurückschlagen werden. Eine Panzerfaust kann jeden Panzer knacken. Jedem Bunker wurde eine zugeteilt, zusammen mit einer ganzen Kiste Munition. Die Panzerfaust liegt in ihrer Mitte auf dem Lehmboden. Die Blicke der Jungen hängen sehnsuchtsvoll an ihr, als wäre sie der Heilige Gral.
„Noch nicht“, zischt einer. „Es ist zu früh.“
Die anderen nicken stumm. Ihre
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