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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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nur ihre tiefsten Strahlen noch die obersten Ränder der Spalte und die riesigen Eiszapfen daran zum Glühen brachten, hörte er auf, nach Xaver Wrede zu rufen. Denn da wusste er, dass Wrede ihn nicht retten würde.
     
    Er lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand des großen Grabens. Jeder Knochen, jeder Muskel schmerzte. Seine Hände und Füße waren taub vor Kälte. Verwirrt und erschöpft glitt er in einen Dämmerzustand, in dem Gedankenfragmente und Traumfetzen seine Sinne trübten. Er wusste nicht, ob er wach war oder schlief. Über sich hörte er ein gewaltiges Rauschen, und als er den Kopf zum sternenübersäten Nachthimmel hob, schoss der dunkle Umriss eines Jagdbombers über den Graben hinweg. Ein tiefes Grollen zog durch den Gletscher. Die gegenüberliegende Wand der Spalte schien plötzlich von ihm wegzutreiben, und der Graben verbreiterte sich so schnell, dass Erik verzweifelt nach Halt suchte. Er schloss die Augen.
     
    Einmal schreckte er hoch, weil ein merkwürdiges Geräusch aus der Tiefe der Spalte zu ihm herauf drang, und sein Echo sprang zwischen den Wänden hin und her, bis es über ihm in der Nacht verschwand. Das Geräusch klang wie das Klappern von Hufen auf dem Eis. Die Geschichte, die Kathi ihm erzählt hatte, schoss ihm durch den Kopf, und mit einem Mal packte ihn ein solches Grauen, dass er sich wimmernd in Embryonalhaltung zusammenkrümmte. Das Klappern entfernte sich langsam, bis es schließlich ganz verstummte. Wenig später glitt er zurück in den Halbschlaf, aber vielleicht war er niemals wirklich wach gewesen.
     
    Als er die Augen das nächste Mal öffnete, war er nicht mehr allein. Neben ihm auf dem Vorsprung aus Eis saß sein kleiner Bruder Hendrik.
    „Was willst du hier?“, fragte Erik.
    „Bei dir sein. Das wollte ich immer. Aber es ist furchtbar hier. Der Tod wohnt hier. Riechst du es nicht?“
    Erik sog Luft ein. Und obwohl er nicht einordnen konnte, was er roch, wusste er doch, dass Hendrik Recht hatte.
    „Der Tod wohnt hier?“, fragte er müde.
    Hendrik nickte. „Willst du auch hier sterben?“
    Ein von einem Eiskristall reflektierter Strahl Mondlicht traf sein Auge, und es leuchtete so hell und rein, dass Erik den Blick abwenden musste.
    „Ich will nicht sterben. Nicht hier.“ Er schluckte. „Nirgendwo.“
    „Aber du wirst sterben. Auf dem Gletscher oder unter dem Gletscher, was spielt es für eine Rolle.“
    „Du kannst mir keine Angst machen.“ Erik begann zu weinen. „Lass mich allein.“
    „Du bist allein“, sagte Hendrik. „Weißt du das denn nicht?“
    Erik schlug die Augen auf. Sein Bruder war verschwunden. Er saß alleine auf dem Vorsprung, der ihn vor einem Sturz in die bodenlose Tiefe bewahrt hatte, legte den Kopf in den Nacken und starrte in die Nacht über dem Graben. Die Sterne leuchteten über dem Gletscher, und er beobachtete, wie sie langsam, so langsam ihre Position am Firmament änderten. Die Kälte war durch seine Kleidung in seine Knochen gedrungen. Sein ganzer Körper war taub. Er ballte die Hände zu Fäusten, um die Wärme zurückzubringen, und massierte seine Gliedmaßen. Aber die Kälte blieb. In diesem Moment kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass er in dieser Spalte sterben würde. „Wrede!“, brüllte er. Er brüllte den Namen so lange, bis seine Stimme versagte. Danach war er still und betrachtete die Sterne, bis er einschlief. Und dann war Hendrik wieder bei ihm, und Erik weinte im Schlaf.

Kapitel 2 4
     
    Als sie von ihrer Schule aus in Richtung Osten aufbrechen, spüren sie warm die untergehende Sonne im Rücken. Im letzten Licht des Tages wirken die Schatten ihrer Körper wie grotesk in die Länge gezogene Karikaturen, mit Kohle auf den Asphalt gemalt. Sie gehen Seite an Seite. Sie sind bereit, ihre Befehle auszuführen.
    Der ältere der beiden Jungen heißt Erik Strauss. Er ist sechzehn Jahre alt. Sein Gesicht spiegelt Entschlossenheit. Anspannung zieht seine hohe, glatte Stirn in Falten. Der Junge neben ihm ist ein Jahr jünger als er. Sein Name ist Hendrik, und er ist Eriks Bruder. Auch sein Gesicht zeugt von Entschlossenheit. Er ahmt den konzentrierten Gesichtsausdruck seines großen Bruders nach; so wie seinen Gang, das Schlenkern seiner Arme, seine Art zu reden. Er bewundert ihn sehr.
     
    Sie sprechen wenig heute. Wenn sie sprechen, dann sagen sie nur das Nötigste. Ein feierlich anmutender Ernst umgibt sie und treibt sie an, aber er ist vermischt mit einem ungekannten Hochgefühl auf der einen und gespannter

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