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Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Der Teufel in Thannsüß (German Edition)

Titel: Der Teufel in Thannsüß (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rupert Mattgey
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auf den Bauch und robbte auf den Abgrund zu, bis seine Finger sich um die Kante schlossen. Er schob seinen Kopf über den Rand. Während seine Augen tiefer wanderten, wechselte die Farbe des Eises von strahlend hellem Weiß zu einem leuchtenden Türkis und dann zu einem stumpfen, dunklen Blau, bis sie sich schließlich in einer alles verschlingenden Schwärze auflöste. Erik nahm die Sonnenbrille ab und presste die Lider aufeinander, um den blendenden Glanz des Gletschers aus seinen Augen zu vertreiben. Und dann sah er sie: Reflektionen der Sonne, gefangen in Tausenden von Eiskristallen in den Wänden der Gletscherspalte. Sie leuchteten wie Katzenaugen in der Dunkelheit. Sie warfen das eingefangene Licht tiefer und tiefer in die Finsternis hinab. Die Strahlen hingen zwischen den Eiswänden wie ein riesiges Spinnennetz. Das Licht reichte bis auf den Boden des Grabens. Die ungeheure Tiefe ließ Erik schwindeln. Die Spalte verjüngte sich auf dem Weg nach unten, und am Boden war sie nur wenige Meter breit.
    „Ich kann den Boden sehen“, keuchte er.
    Und dann wurde sein Auge von einem schwachen Leuchten am Boden des Abgrunds angezogen und blieb dort hängen. Er zwinkerte, aber das Leuchten blieb. Es war ein stumpfes Glänzen, schwach und fern und unwirklich, wie Sonnenlicht, das von einer Münze reflektiert wird, die auf dem Grund eines dunklen Sees ruht. Oder von einem Stück Metall unter dem Eis.
    Er schob sich vorsichtig einige Zentimeter weiter vor. Der Schnee unter seinem Körper knirschte. Ein Windstoß fuhr durch den Graben, und aus der Tiefe vernahm Erik mit einem Mal laut und klar die Stimme seines Vaters.
    Erik.
    Er wollte Aufspringen und stieß seine Hände in den Schnee, aber der weiche Untergrund hatte seinem plötzlichen Aufbegehren keinen Widerstand entgegenzusetzen. Seine Arme drangen tief in die Schneedecke ein. Dann gab die Schneewechte nach, auf der er lag. Er spürte es einen Augenblick, bevor es passierte. Einen Moment lang fühlte er sich schwerelos. Dann riss die Tiefe an ihm, und er fiel. Die Schwärze streckte gierig ihre wabernden Arme nach ihm aus. Er stürzte hinab in die Finsternis, und es fühlte sich an, als würde er auf den Grund des Ozeans gesogen. So dunkel. So kalt. Er schrie.
     
    Der Aufprall war hart. Vier Meter unter der Kante des Grabens schlug er auf einem Vorsprung auf, der nicht mehr als einen Meter in den Spalt hineinragte. Er blieb reglos liegen. Sein Verstand brauchte einige Minuten, um die Tatsachen seines Sturzes zu akzeptieren, und sein Nervensystem brauchte ebenso lang, um den Schmerz an sein Gehirn zu übermitteln. Dann krümmte er sich und brüllte seinen Schmerz und seinen Schrecken hinaus, so dass der Schnee vor seinem Mund in Wolken aufstob. Er hörte ein Geräusch über sich und drehte sich stöhnend auf den Rücken. Schnee rieselte auf ihn herab, als Xaver Wredes bärtiges Gesicht sich über den Rand des Grabens schob.
    „Holen Sie mich hier raus!“, schrie Erik.
    Wrede blickte auf ihn hinunter. „Verdammte Scheiße“, murmelte er. Dann war er verschwunden.
    „Xaver!“, schrie Erik. „Helfen Sie mir! Xaver!“
    Aber über ihm, wo die Sonne das Eis beleuchtete und die Wolken unbeteiligt über den Himmel wehten, blieb alles still.
    „Xaver!“, schrie er, wieder und wieder. Niemand antwortete ihm.
    Er wartete darauf, dass Xaver Wrede zurückkam, dass er ihm Mut zusprach, dass er ihm ein rettendes Seil hinunterwarf, doch er wartete vergebens. Als seine Stimme nur mehr ein heiseres Krächzen war, das im Brausen des Windes unterging, verstummte er und schlang die Arme um seinen Körper, um sich zu wärmen. Er zitterte unkontrolliert.
     
    Er tastete seinen Körper ab und vergewisserte sich, dass nichts gebrochen war. Der Schmerz war zu einem dumpfen Pochen abgeklungen und hatte nur die Nachwirkungen des Schocks zurückgelassen. Der schmale Vorsprung, auf dem er gelandet war, war acht oder neun Meter lang. Er kroch den Vorsprung auf allen Vieren ab und wagte es nicht, dabei nach unten zu sehen. Mit klammen Händen suchte er nach einer Möglichkeit, die senkrechte Wand des Grabens zu erklimmen, suchte nach einem Halt, einem Tritt, einer Unebenheit im Eis. Aber er fand nichts.
     
    Der Wind blies über den Abgrund, und manchmal tauchte eine Böe tief hinein und erzeugte ein dunkles Heulen, das Eriks Innerstes zum Zittern brachte. Wieder schrie er nach Xaver Wrede, aber sein Führer blieb verschwunden. Als die Sonne bereits weit über den Himmel gewandert war und

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