Der Teufel von Garmisch
und hatte schon einiges
erlebt, aber dies war zu viel. Ihr Herz machte einen letzten, ebenso kraftlosen
wie vergeblichen Versuch, sie auf den Beinen zu halten, ihre Knie knickten ein,
und ihr schwerer Körper sank mit einem langen, zagenden Röcheln zu Boden.
* * *
»Kommst du nicht ins Bett, Werner?« Bärbel stand in der Tür und
sah Schafmann verschlafen an. »Es ist schon nach zwölf.«
»Ja, ich komm gleich, Schatz.« Schafmann wandte den Blick vom
Fernseher und warf ihr ein schiefes Lächeln zu. »Ich guck nur noch den Film zu
Ende.«
Sie verschwand wortlos in Richtung Schlafzimmer, und er starrte
wieder auf den Flachbildschirm, auf dem eine Dokumentation über Street Art
lief, von der er überhaupt nichts verstanden hatte. Er spürte ein Drücken oder
eher ein Ziehen in der Magengegend, wie er es so lange nicht gespürt hatte,
dass er es fast vergessen hatte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Carmen Misera
zurück, zu ihren feingliedrigen Händen, dem Ausschnitt ihres Morgenmantels und
dem Duft, der von ihr ausging. Der Duft einer frisch gemähten Wiese.
Schafmann versuchte, all diese Gedanken zu verdrängen, aber es
wollte nicht gelingen. Wenn er die Augen schloss, sah er sofort das leuchtende
Rot ihres Morgenmantels vor sich. Und das Dunkel ihrer Augen.
Müde griff er nach dem Bierglas, aber es war leer. Mit einem
heftigen Kopfschütteln und einer Mischung aus Ärger, Resignation und Adrenalin
erhob er sich aus seinem Sessel. Er schaltete den Fernseher aus, brachte das
Bierglas und die leere Chipsschale in die Küche und deponierte beides
sorgfältig in der Spülmaschine. Dann ging er ins Bad, um sich die Zähne zu
putzen.
Er hätte noch endlos in der Stube vor dem Fernseher sitzen können,
aber ihm war klar, dass das keine Lösung war. Bärbel wäre bloß misstrauisch
geworden. Er steckte den rotierenden Kopf der elektrischen Zahnbürste in den
Mund und schob ihn gedankenverloren hin und her.
Ein solches Gefühl hatte er das letzte Mal kurz nach dem
Schulabschluss gehabt. Damals, in den wenigen Sommerwochen zwischen
Abgangszeugnis und Ausbildungsbeginn, hatte ein gewaltiger Sommer geherrscht
und die kurze Zeit der Freiheit vergoldet.
Damals hatte er seine erste große Liebe kennengelernt, und es war
nicht Bärbel gewesen.
Beim Stadlfest in Unterammergau, wo sie sich das erste Mal gesehen
hatten, hatte die Spannung zwischen ihnen fast einen Lichtbogen erzeugt. Sie
hatten Blues getanzt. So was machte man damals noch. Wahrscheinlich macht man
das auch heute noch, dachte Schafmann, man nennt es bloß anders. In einer
solchen Situation pressen sich zwei Menschen aneinander, weil ihnen nichts
anderes übrig bleibt. Der Timer der Zahnbürste meldete sich, aber er putzte
einfach weiter.
Sie hatten beide gewusst, dass es nicht lange dauern würde, aber sie
hatten nie darüber gesprochen. Sie hieß Veronika und kam eigentlich aus
Hannover. Ihr Vater arbeitete als Bauingenieur für die Amis. Er war für ein
Projekt hier gewesen, irgendeine Baustelle, irgendeine Halle, Schafmann
erinnerte sich nicht. Und wenn diese Halle fertiggestellt war, dann würde
Veronika wieder fortgehen. Gemeinsam mit ihrem Vater, zu einer anderen
Baustelle.
Dass die dann tatsächlich in Marokko sein würde, hatte er sich nicht
ausgemalt. Und so war Veronika einfach wieder verschwunden und hatte ihm nichts
hinterlassen als ein anhaltendes Drücken in der Magengegend, eigentlich eher
ein Ziehen.
Die Zeit hatte das alles geheilt, aber vergessen hatte er es nie.
Manchmal stellte er sich vor, dass sie sich wiedertreffen würden. Sie wären
beide frei, hätten keine Verpflichtungen und würden das nachholen, was ihnen
damals verwehrt geblieben war.
Niemand musste ihm sagen, dass es Tagträume waren. Alberne zudem. Er
hatte ihren Namen mal gegoogelt. Natürlich erfolglos, sie würde heute gewiss
einen anderen Nachnamen tragen. Sie wäre nicht frei, so wenig, wie er frei war.
Er war verheiratet, er hatte drei Kinder. Er war sogar glücklich verheiratet,
wie er sich sagte. Sie führten eine gute Ehe, sie vertrauten einander. Nie
hatte Bärbel ihm unnötige Fragen gestellt, und es hatte auch keinen Anlass dazu
gegeben.
Aber nie wieder hatte er dieses Gefühl gehabt.
Der Timer meldete sich ein zweites Mal. Schafmann schaltete die
Zahnbürste ab, gurgelte ausgiebig und ging dann leise ins Schlafzimmer. Bärbel
ließ ein leises, zufriedenes Schnurren hören, als er sich neben sie legte, und
schlief sofort wieder ein.
Er lag da und
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