Der Teufel von Garmisch
Die
dünne und verworrene Spurenlage bedeutete wahrscheinlich wochenlang Gespräche
wie diese: Befragungen von Menschen, die nichts wussten.
Aber es war gut möglich, dass es am Ende einer dieser Menschen war,
der doch irgendein Detail beisteuerte, dessen Bedeutung weder er noch der Befrager
richtig einschätzen konnten und das letztlich dann den entscheidenden Hinweis
lieferte.
Doch bis dahin waren diese Befragungen nur eines: langweilig.
»Ich hab mein eigenes Büro, wissen Sie. Deswegen krieg ich nicht
viel mit von der Atmosphäre.« Polz lachte, aber es wirkte angestrengt.
Auf Schafmann wirkte er wie ein Mensch, der gute Atmosphäre nicht
gewohnt war und jeder Art von Umgang deswegen skeptisch gegenüberstand und ihn
wo möglich vermied.
»Arbeiten Sie denn gern hier?«, fragte Schafmann.
»Ja … Ja, tatsächlich. Ich habe einen interessanten Job.«
Es klang fast, als wundere Polz sich selbst über seine Aussage.
»Was ist denn Ihr Job?«, fragte Schafmann und registrierte, dass
Polz erfreut und bereitwillig anfing, ihm detailliert die Aufgaben zu
erläutern, mit denen er betraut war. Es ging um die Steuerung von Maschinen,
die Stahlstangen zurechtbogen, die dann in Betonbauten verwendet wurden. Nach
dem fünften Satz, in dem von der »Verknüpfung mit systemfremden WWM -Softwaresystemen« die Rede war, verstand Schafmann
kein Wort mehr. Er nahm seinen Block und notierte das Wort »Fachidiot«, das er
aber wieder durchstrich. Stattdessen schrieb er: »Leicht betriebsblind«.
Polz redete weiter, und Schafmann gelang es nicht, seine Gedanken in
dem neonbeleuchteten, fensterlosen und leicht stickigen Besprechungsraum zu
halten. Sie wanderten fort zu einem Paar dunkler, fast schwarzer Augen und
einem Duft, der an eine frisch gemähte Wiese erinnerte. Ein roter Morgenmantel
und ein Dekolleté, von dem er die Augen nicht wenden konnte, tauchten in seinen
Gedanken auf, und eine warme Altstimme mit einem Lachen, das ihn direkt an der
Seele berührte.
Mit einem kleinen Kopfschütteln zwang er sich wieder in die
Gegenwart. Polz redete immer noch, Schafmann erfasste die Worte
»Lagerortverwaltung« und »Mattenverschnittoptimierung«. Konzentriert atmete er
ein und aus.
Ich darf das nicht, dachte er, und: Wo kommt das nur her?
Aus dem Nichts, war die Antwort. Er hatte diesen Duft geatmet und
diese Augen gesehen. Sie hatte gelächelt.
Ende der Geschichte, dachte Schafmann und wusste, dass er sich
irrte.
Bärbel hatte das nicht verdient. Sie führten eine gute Ehe. Er hatte
es nie anders empfunden. Natürlich nagte der Alltag, belasteten all die
Ansprüche, die drei Kinder nun mal mit sich brachten, aber er hatte nie das
Gefühl gehabt, die falsche Frau geheiratet zu haben oder gar unglücklich zu
sein. Und nun das.
Er war froh, dass dieser Polz etwas zu erzählen hatte und er ein
paar Augenblicke lang in seinen Gedanken für sich sein konnte.
Ich darf das nicht, dachte er wieder und wusste, dass es nichts
nutzte.
Dreimal hatte er Carmen Misera nun getroffen. Beim letzten Mal,
heute Morgen, hatte er nicht einmal mehr vorgegeben, irgendwas Dienstliches
führe ihn zu ihr. Und sie war weder verwundert noch zurückweisend gewesen. Sie
hatte ihn eingelassen und war vor ihm stehen geblieben, bis er begonnen hatte,
den Knoten im Gürtel ihres Morgenmantels zu lösen. Sie hatte ihre Arme um ihn
geschlungen und ihn wild geküsst. Er hatte sie zum Sofa getragen, wo sie wie
verhungert übereinander hergefallen waren. Schafmann zitterte leicht bei der
Erinnerung.
Später hatte sie seinen Ehering mit dem Finger berührt und ihn dann
stumm angesehen. Und er hatte den Kopf gesenkt.
Sie hatte dann tatsächlich einen Kaffee gemacht, und er hatte zu
erzählen begonnen, weil er irgendwas erzählen musste, damit kein Schweigen
zwischen ihnen war, denn das hätten sie beide nicht ertragen. Er hatte von den
toten Frauen erzählt, von den Spuren, die nicht recht zu deuten waren, von dem
verschwundenen Wagen. Und da war ihr die dunkle Limousine eingefallen, die am
frühen Morgen in der Ludwigstraße gestanden hatte.
Zwei Tassen Kaffee hatten sie getrunken, dann hatte er sich mit
einem Händedruck verabschiedet. Sie hatten sich angesehen und gewusst, dass das
alles völlig falsch war.
»… und ich muss sagen, ich finde das schon eine interessante
Herausforderung«, sagte Polz und sah ihn an. Offenbar war sein Vortrag beendet.
»Ähm … ja, das klingt so«, sagte Schafmann. Er blätterte die letzten
Seiten seines Notizblocks
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