Der Teufel von Herrenhausen
unbedingt über eine ganze Herde williger
Weiblichkeit verstreuen mussten. Andererseits … Rüdiger hatte schon immer eine
unwiderstehliche Wirkung auf Frauen gehabt, und eigentlich … eigentlich hatte sie
bisher den Eindruck gehabt, dass ihm diese Schwärmerei eher lästig war und er
durchaus so etwas wie ein Gewissen hatte.
Sie fuhr den
Computer herunter und stand auf. Sie musste mit irgendwem reden. Miriam. Meine
Güte, Miriam hatte sie seit dem Leichenfund im Georgengarten völlig vergessen.
Aber die hatte bestimmt weder Lust noch Zeit, sich mit dem Liebeskummer ihrer
Freundin herumzuschlagen. Sie hatte ein ewig krankes, schreiendes Kleinkind zu
Hause und würde bestimmt wieder einschlafen, wenn sie sich mal wieder einen
Abend freinahm und bei Charlotte eine oder zwei Flaschen Wein köpfte. Ihre
Mutter? Vielleicht sollte sie ihre Mutter anrufen. Aber nein, sie verwarf den
Gedanken. Erstens war die mit ihrem Vater im Zoo unterwegs, und zweitens würde
sie nur die Hände zum Himmel erheben und sagen: »Kind, hab ich’s dir nicht
gleich gesagt? Wirklich ein großartiger Mann, aber …«
Dabei mochten sie
Rüdiger. Okay, ihr Vater war etwas zögerlich gewesen, als er Rüdiger zum ersten
Mal gesehen hatte. Aber Charlotte argwöhnte, dass das Neid war. Ihr Vater sah
nämlich aus wie Pierce Brosnan in alt, und wenn dann plötzlich ein anderer
Hirsch in seinem Revier auftauchte …
Charlotte fragte
sich gerade, ob ihre Mutter mit ihrem Vater auch Erfahrungen in dieser
Beziehung hatte. Bestimmt war es so, warum sollte sie sonst ihre Töchter immer
vor schönen Männern warnen? Wieso hatte sie sich bisher darüber nie Gedanken
gemacht? Weil sie sich zu wenig für ihre Eltern interessierte. Das war einfach
eine Tatsache. Sie war viel zu sehr mit sich selbst und ihrem Beruf
beschäftigt, um sich mit den Problemen anderer zu belasten.
Plötzlich wurde
sie wütend. Wieso fühlte sie sich jetzt schuldig? Sie hatte nichts getan. Und
vielleicht hatte ihr Rüdiger auch nichts getan. Immerhin hatte er ihr gleich
das Foto gezeigt. Würde ein Fremdgeher das tun?
Nein, das passte
doch irgendwie nicht. Fremdgeher waren hinterlistige Heuchler, das wusste sie
genau. Charlotte beruhigte sich etwas. Es lag an ihr. Sie war zu misstrauisch.
Das musste sie in den Griff kriegen. Aber wie ging das? Es war wie mit den
Leuten, die Angst vorm Fliegen haben: Man hat immer die Befürchtung, dass, wenn
die Angst nachlässt, die Maschine abstürzt. Oder mit den Steinzeitmenschen.
Wenn die zu sorglos durch die Gegend gewildert waren und sich sicher gefühlt
hatten, hatte sie auch in null Komma nichts ein Säbelzahntiger – oder was immer
damals an Fleischfressern rumlief – am Wickel. Wie konnte man bloß sein
evolutionäres Erbe überlisten? War sie naiv, wenn sie ihm vertraute? Riskierte
sie eine noch größere Enttäuschung? Sie wusste es nicht, aber schließlich, wer
wusste das schon? Wenn man mit Menschen zu tun hatte, musste man eben damit
rechnen, enttäuscht zu werden. Aber deswegen nichts mit Menschen zu tun haben
zu wollen war als Maßnahme wohl doch etwas überzogen. Das war wie … wie keine
Kinder zu kriegen, weil das Leben ihnen zu übel mitspielen könnte.
Charlotte nahm
ihre Tasche und verließ das Büro. Sie würde jetzt zu ihrer Freundin fahren und
hoffte, dass sie zu Hause war.
ZEHN
Bergheim hatte die
Nacht auf dem Sofa im Wohnzimmer verbracht. Nachdem er im Waterloo-Biergarten
drei halbe Liter Hasseröder getrunken hatte und zwei Asiatinnen am Nebentisch
immer ausgelassener geworden waren, hatte er gezahlt und sich auf den Heimweg
gemacht. Charlotte hatte er nicht zu Gesicht bekommen, sie war irgendwann gegen
Mitternacht aufgetaucht. Jedenfalls hatte er das aus dem Türenknallen
geschlossen. Das Wohnzimmer, wo er auf sie gewartet hatte, hatte sie nicht
betreten, und als er zwanzig Minuten später ins Schlafzimmer gehen wollte, um
mit ihr zu reden, hatte sie abgeschlossen.
Und heute Morgen
war das Schlafzimmer immer noch abgeschlossen gewesen. Also war er unter die
Dusche gesprungen und hatte sich die Klamotten von gestern noch mal
übergestreift. Dann hatte er Kaffee gekocht und gehofft, der Duft würde sie aus
der Reserve locken. Hatte aber auch nicht funktioniert. Also hatte er kurz
angeklopft, sich verabschiedet und seinen Sohn zur Schule gefahren.
Jan saß auf dem
Beifahrersitz und sah seinen Vater neugierig an.
»Was ist denn nun
mit dem, der verschwunden ist?«, fragte er.
Bergheim sagte das
nur ungern.
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