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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Betrachten Sie es so. Sie erschaffen etwas Neues aus qualitativ minderwertigem Rohstoff.
    Sonia hegte zwar Zweifel an dieser Sichtweise, aber einige Tage später ertappte sie sich dabei, wie sie der Massage eines geplagten Lumbagopatienten tatsächlich so etwas wie kreative Befriedigung abgewinnen konnte.
    Dr. Stahels Unterhautzellgewebe in der Lendenregion fühlte sich fest und hart an. Sonia legte ihre Daumen flach an die Dornfortsatzreihe, raffte mit acht Fingern eine Hautfalte, rollte sie an die Daumen heran und ließ sie darunter durchgleiten. Das tat sie so oft, bis die oberflächlichen Schichten so weit aufgelockert waren, daß sie sich zur Muskulatur durchtasten konnte. Dann griff sie sich zwei Handvoll der fleischigen Muskeln und wrang und knetete sie mit sanfter Unnachgiebigkeit.
    Aus den unsichtbaren Lautsprechern klang leise Meditationsmusik. Tibetanische Flöten und Klangschalen und die Geräusche und Tierstimmen des Regenwaldes vermischten sich mit den tiefen Atemzügen des Patienten und den rhythmischen der Masseurin.
    Sonia arbeitete wie in Trance. Sie hob sein Schulterblatt mit der rechten Hand nach hinten, ließ die Finger ihrer Linken unter den unteren Schulterblattwinkel gleiten und massierte den Unterschulterblattmuskel in kleinen Kreisen mit den Fingerspitzen.
    Der Duft des Massageöls – Lavendel, Zitrone, Mandel – füllte den Raum und vermengte sich mit dem des Haaröls von Dr. Stahel und dem der Bodylotion ihres eigenen warmen Körpers.
    Sie faßte den Trapezmuskel über der rechten Schulter. Dr. Stahel stöhnte leise auf. Vorsichtig begann sie zu kneten. Sie fühlte die Verhärtungen und Verspannungen und arbeitete sich langsam über den Nacken bis zur Ansatzstelle am Hinterkopf vor. Und wieder zurück bis zum Schulterblatt.
    Allmählich fühlte sich die Hautfalte zwischen ihren Fingerspitzen anders an. Sie wurde weicher und geschmeidiger. Sie veränderte ihre Form. Wurde kantig, ohne ihre Schmiegsamkeit zu verlieren. Die Hautfalte fühlte sich an wie ein Lineal aus Teig. Und diese Form besaß einen Geschmack: bitter wie Angostura.
    »Weshalb haben Sie aufgehört?« fragte Dr. Stahel.
    Sonia stand da, hatte die Finger gespreizt und rieb die Handflächen an ihren Oberschenkeln.
    Er drehte sich auf die Seite und schaute sie an. »Ist Ihnen nicht gut?«
    Sonia schüttelte den Kopf. »Schon vorbei.«
    »Sind Sie sicher?«
    Sie nickte.
    Dr. Stahel legte sich wieder auf den Bauch. Sonia überwand sich und zog seine Nackenmuskeln wieder hoch. Sie fühlten sich normal an. Und auch der bittere Geschmack auf ihrer Zunge war verflogen. Sie fuhr fort zu kneten.
    »Sie dürfen es mir ruhig sagen, wenn Sie die Behandlung beenden wollen. Ich habe Verständnis für Unpäßlichkeiten, ich bin Arzt.«
    »Es ist nichts Körperliches.«
    »Das Körperliche ist auch weniger mein Gebiet.«
    Sonia wechselte die Seite und nahm sich die linke Schulterpartie vor. Und plötzlich hörte sie sich sagen: »Ihr musculus trapezius hatte sich angefühlt wie ein Lineal. Vierkantig.«
    »So fühlt er sich manchmal auch für mich an.«
    »Und auf der Zunge bitter wie Angostura.«
    »Auf der Zunge?«
    »Ich schmecke Formen, sehe Töne, rieche Farben. Und so weiter.«
    »Sie sind Synästhetikerin?«
    »Synäwas?«
    »Synästhesie kommt aus dem Griechischen und heißt soviel wie Mitempfindung. Die Wahrnehmungen verknüpfen sich. Geräusche bekommen Farben oder Formen. Berührungen duften oder schmecken.«
    »Das haben auch andere Leute?«
    »Nicht viele. Hat Ihnen das noch nie jemand gesagt?«
    »Ich habe es ja noch nicht lange.«
    »Wie lange?«
    »Ein paar Wochen.«
    »Und davor nie?«
    »Nie.«
    »Als Kind?«
    »Nie.«
    Dr. Stahel dachte nach.
    »Muß ich mir Sorgen machen?«
    Anstatt zu antworten, fragte er: »Sind Sie Linkshänderin?«
    »Ja.«
    »Die meisten Synästhetiker sind weiblich und Linkshänder.« Er schwieg wieder.
    Sonia zog das Frottiertuch bis zu seinen Schultern hoch. Die Beine waren jetzt abgedeckt. Sie goß sich mehr Massageöl auf die Handfläche, verrieb es und ölte sein rechtes Bein ein. Sie legte beide Hände oberhalb des Fußgelenks hintereinander und strich die Wade kräftig bis zur Kniekehle und federleicht zurück in die Ausgangslage.
    »Als Sie schreiben lernten, hatten da die Buchstaben bestimmte Farben?«
    Sonia hörte auf zu massieren. »Ja. Haben sie heute noch.«
    »Mhm. Und wie ist Ihr Gedächtnis?«
    »Gut.«
    »Wie gut?«
    »Fotografisch. Ich vergesse nichts.«
    »Gut.«
    »Ich finde das

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