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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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»Da gibt es auch andere Methoden.«
    Sonia warf ihm einen gelangweilten Blick zu und ging weiter. Nach ein paar Metern holte sie der Wagen wieder ein. Er verlangsamte auf Schrittempo und fuhr neben ihr her. Sie blickte stur geradeaus. Aus dem Auto klang »No Woman No Cry«.
    Die Angst erwachte wie ein böses Tier aus leichtem Schlaf. Sie zwang sich, ihr Schrittempo beizubehalten. Der Wagen blieb auf gleicher Höhe.
    Abrupt blieb sie stehen. Sie hatte den Fahrer überrascht, denn er fuhr ein paar Meter weiter, bis er zum Stehen kam. Sie öffnete ihre Tasche, nahm das Handy heraus, tippte darauf herum und hielt es ans Ohr.
    Der Mann legte den Gang ein und fuhr los. Das Fahrzeug verschwand in der nächsten Kurve. Sonia blieb stehen, bis sie es weit unten im Dorfeingang wieder auftauchen sah. Sie steckte ihr Handy wieder in die Tasche und fragte sich, wen sie angerufen hätte, wenn er nicht aufgegeben hätte.
    Der Wind, der den ganzen Nachmittag die Wolken über das Tal gejagt hatte, wuchs in der Nacht zu einem Sturm heran. In zornigen Böen tobte er durch das Dorf, riß die Geranienblüten von ihren Stengeln und fegte sie in bunten Haufen in den Ecken und Mauervorsprüngen der Dorfstraße zusammen. Er zerrte an der Fontäne des Dorfbrunnens und brachte die Kirchenglocken zu ein paar gespenstischen Schlägen.
    Bis in den Morgen heulte er über den Dächern, toste er in den Wäldern, orgelte er um die Felstürme. Kalt und unbeteiligt hing der fast volle Mond über dem Aufruhr.
    Schon immer hatte sich Sonia vor Blitz und Donner gefürchtet. Aber früher war es eine wohlige Angst gewesen. Als ganz kleines Mädchen durfte sie bei Gewittern zu ihren Eltern ins Bett schlüpfen. Als sie etwas größer war, ließ man sie mit Kissen und Federbett ins Wohnzimmer, wo ihre Eltern bei einer Flasche Wein eine ihrer italienischen Opern hörten. Als sie ein Teenager war, wurde toleriert, daß sie ihre verhaßte Mansarde verließ und sich auf dem Sofa einrichtete. Und sogar in der ersten Zeit ihrer Ehe gefiel es ihr, sich an ihren Mann zu kuscheln, wenn draußen die Welt explodierte.
    Aber hier oben, in der Einsamkeit des fremden Zimmers und der Feindseligkeit dieser neuen Umgebung, hatte die Angst nichts Wohliges. Sie konnte die klappernden Fensterläden nicht schließen, denn sie ertrug keine geschlossenen Läden. Gespenstisch hinterleuchteten die grellen Blitze die bizarren Blumenmuster des Vorhangs, und erbarmungslos krachten die Fußtritte des Donnerriesen gegen das Dach.
    Sie schlief unruhig und in kurzen Etappen und war froh, als sich über der Vorhangstange ein blasser Streifen Tag zeigte.
    Es war zwar erst kurz nach fünf, aber sie hatte Frühdienst heute. Sie mußte die Wasserfälle in Betrieb setzen, die Wärmeschränke einschalten, die Dampfbäder vorheizen und Licht machen. Um sieben Uhr mußte der Wellness-Bereich bereit sein für die Frühaufsteher. Auch wenn bis heute außer Barbara Peters nie jemand vor neun Uhr erschienen war.
    Der Sturm hatte sich gelegt. Das Haus war still, als erholten sich seine Bewohner vom Tumult der Nacht. In Korridor und Treppenhaus brannte noch die Nachtbeleuchtung, schwache gelbe Lichter in Bodennähe. Die hölzernen Stufen knarrten unter ihren Schritten.
    Die Empfangshalle war dunkel bis auf das Licht einer Leselampe, die hinter dem Empfangstisch brannte. Sie sah die Gestalt von Herrn Casutt über einer Zeitung zusammengesunken. Neben ihm auf der Tischplatte stand eine leere Tasse Kaffee. Sein Rücken bewegte sich in tiefen, regelmäßigen Atemzügen.
    Sie ging leise zum Eingang des Wellness-Bereichs, die Glastür glitt lautlos auseinander.
    Und da sah sie schon das Licht. Es glomm wie ein fernes Feuer aus der Richtung der Pools. Ein Sturmschaden? Ein Kurzschluß? Aber das Licht kam, das sah sie beim Näherkommen, vom Thermalpool. Sie ging bis zum Rand.
    In der Mitte des Beckenbodens lagen kreuz und quer übereinander Stäbe, die helles rotes Licht ausstrahlten.
    Ein Unterwasserfeuer in voller Glut.
    Sonia wich zurück. Die Angst, die sich mit dem Abflauen des Windes in ihr Schlupfloch verzogen hatte, war wieder da.

5

    In dem Wald, den sie Corv nannten, hoch über dem Dorf, begutachtete Gian Sprecher sein Sturmholz. Der Wind hatte im niedergründigen Gneis an exponierten Stellen einige Föhren entwurzelt. Alles Fallholz, Bruchholz sah er keines. Er würde später eine Bestandsaufnahme machen und beim Kanton ein Entgelt für Zwangsnutzung beantragen. Ein paar Franken könnten da

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