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Der Teufel von Mailand

Der Teufel von Mailand

Titel: Der Teufel von Mailand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Suter
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Steinbock und essen einen Bündnerteller. Aber beeil dich, um zwei habe ich wieder Dienst.«
    »Ich habe keine Lust, in dieses Dorf zu gehen. Es macht mir angst.«
    »In zehn Minuten wirkt das Zeugs. Dann hast du keine Angst mehr.«
    »Aber immer noch einen Grund.«
    »Du kannst doch nicht den Rest der Saison in diesem Kasten verbringen.«
    »Nein. Aber abreisen kann ich.« Sonia hatte den Entschluß in der gleichen Sekunde gefaßt, in der sie ihn ausgesprochen hatte. Ja, das war die einzige Lösung. Sie mußte weg. Schließlich war sie nach Val Grisch gekommen, weil sie keine Angst mehr haben wollte.
    »Ach, komm«, sagte Manuel, »tu mir das nicht an.« Er drückte sie noch einmal an sich. »Ich gehe jetzt runter und warte in der Halle. Wenn du in einer Viertelstunde nicht unten bist, gehe ich allein in den Steinbock.«
    Sobald Manuel aus dem Zimmer war, verriegelte Sonia die Tür und fing an zu packen.
    »Sie werden hier unten erwartet, Sie haben einen Termin«, schnauzte Frau Felix’ Stimme am Telefon.
    »Können nicht Sie den nehmen, ich habe heute freibekommen.«
    »Er besteht darauf, daß Sie es sind. Es ist Dr. Stahel.«
    Sonia überlegte. »Sagen Sie ihm, ich komme.« Sie legte auf.
    Die Koffer waren gepackt. Die Kleider, die sie für die Reise anziehen wollte, lagen im Schrank bereit, was sie heute abend und morgen früh noch brauchte, würde sie ins Rollwägelchen packen.
    Ihr ursprünglicher Plan, noch heute abzureisen, war ihr schon beim Packen etwas überstürzt vorgekommen. Sie wußte, daß das mit der Wirkung der Tablette zu tun hatte. Aber wenn ihr das Medikament half, ihren Abgang weniger dramatisch zu gestalten, warum nicht? Und außerdem war Dr. Stahel ein interessanter Patient.
    Bevor sie das Zimmer verließ, schickte sie Malu nochmals die Nachricht.
pavarotti ist tot
    Dr. Stahel lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen. Die Lichtorgel warf ihre Farben auf sein entspanntes Gesicht. Aus den Lautsprechern klang der Gesang tropischer Vögel. Sie war sich nicht sicher, ob er schlief. Sie wartete.
    »Sind Sie es, Sonia?«
    »Ja. Verzeihen Sie, daß ich Sie warten ließ.«
    »Sie hätten frei heute, hat die Gefängniswärterin behauptet. Das hätten Sie mir doch bestimmt gesagt.«
    »Es war nicht eingeplant.«
    »Aber es geht Ihnen gut?«
    »Ja. Und Ihnen?«
    »Verkatert. Ich hoffe, ich habe mich nicht danebenbenommen, gestern.«
    »Sie haben sich nichts vorzuwerfen.«
    Dr. Stahel machte Anstalten, sich auf den Bauch zu drehen.
    »Nein, bleiben Sie so. Sie bekommen eine Katermassage.« Sie ging zum Waschbecken, ließ das Wasser laufen, bis es eiskalt war, netzte zwei Watte-Pads und legte sie ihm auf die Augen.
    Sie stellte sich hinter ihn, legte die Hände aufeinander auf seine Stirn und drückte sachte. Nahm den Druck weg. Drückte wieder. Legte die Hände seitlich um seinen Kopf. Drückte, gab nach, drückte, ließ die Hände unter den Nacken gleiten, zog ihn behutsam, hielt die Spannung, ließ locker.
    »Ich werde mich heute wieder betrinken und morgen wieder zu Ihnen kommen.«
    »Morgen werde ich nicht mehr hier sein.«
    »Sagen Sie, daß das nicht wahr ist.«
    »Es ist wahr.«
    »Was ist passiert?«
    Sonia strich mit den Fingern beider Hände von den Augenbrauen zum Haaransatz. Nach jedem siebten Strich glitten ihre Fingerspitzen die Brauen entlang und verharrten mit leichtem Druck einen Moment auf den Schläfen.
    Sie erzählte ihm die traurige Geschichte von Pavarotti.
    Sie krümmte die Finger zu Krallen und harkte über Dr. Stahels Kopfhaut. Sie legte die Fingerspitzen auf der Mitte seiner Stirn zusammen und strich sanft nach unten, bis Zeige- und Mittelfinger auf seinen Augendeckeln lagen. Sie drückte leicht, hielt den Druck ein paar Sekunden und ließ die Finger zu den Schläfen gleiten. Dort kreisten sie mit sanftem Druck eine Weile. »Und jetzt habe ich Angst«, gestand sie.
    »Darum die überstürzte Abreise?«
    »Ich will keine Angst mehr haben.«
    »Haben Sie viel Erfahrung mit Angst?«
    »Mir reicht sie.« Sie legte die Zeigefinger in seine Augenwinkel und gab leichten Druck.
    »Und das ist es, was Sie tun wollen? Abhauen?«
    »Ich hab’s auch schon mit Temesta versucht.«
    »Und?«
    »Hilft vorübergehend. Jetzt, zum Beispiel. Aber ich war schon einmal auf Temesta. Das reicht.«
    »Temesta hilft gegen diffuse Angstgefühle. Aber Sie wissen ja, wovor Sie Angst haben.«
    »Ja.«
    »Es ist die alte Frage: die Symptome beseitigen oder die Ursachen?«
    »Oder die Urheber.«

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