Der Teufel von New York
unerwartet hier erscheine, Mr. Wilde«, sagte sie mit einem einstudiert schüchternen Blick. »Ich hoffe, Sie finden mich nicht zu unhöflich, doch ich war sehr durcheinander. Ihre Wirtin musste eine Bestellung ausliefern, war aber so freundlich, mir zuvor noch einen Tee zu machen. Darf ich Ihnen auch eine Tasse einschenken?«
Ich brauche nicht freundlich zu tun, dachte ich, es ist ganz normal, dass ich überrascht wirke. Versuch das Beste aus der Situationzu machen, halte dich möglichst bedeckt und bete zu Gott, dass Bird die ganze Zeit oben in ihrem Zimmer geblieben ist.
»Ich habe nicht viel Zeit, Madam Marsh, und ich gestehe, ich bin etwas verwundert. Ich hätte mir vorgestellt, mein Bruder wäre die Person, an die Sie sich wenden, wenn Sie ... durcheinander sind.«
Silkie Marsh goss mir eine Tasse Tee ein und formte ihre rosigen Lippen zu einer Kurve des Bedauerns. Mit Entsetzen bemerkte ich, was hinter ihr, ordentlich zusammengefaltet und von Mrs. Boehm sauber gewaschen, auf einem Stuhl neben den Mehlsäcken lag: Birds Nachthemd. Es hätte entweder als Beweismittel aufbewahrt oder verbrannt werden müssen, doch stattdessen war es der guten Haushaltsführung zum Opfer gefallen und in einem Eimer voll Lauge mit dem Bimsstein bearbeitet worden. Ob Silkie Marsh es entdeckt hatte, war unmöglich herauszufinden, ich konnte sie nicht danach fragen, ohne mich zu verraten.
»Valentine wäre tatsächlich der Erste gewesen, zu dem ich unter diesen Umständen gelaufen wäre, vor langer Zeit jedenfalls. Doch Sie dürften bemerkt haben, dass ... ach, ein schmerzvolles Thema.« Diesmal war ihr Gesichtsausdruck echt. Künstlich daran war nur, dass sie ihn absichtlich nicht vor mir verbarg.
»Val liebt das Neue, Mr. Wilde. Ich fürchte, dass die Zuneigung, die ich für ihn empfinde, nicht länger wahrgenommen wird.«
»Er achtet ganz allgemein nicht sonderlich auf die Zuneigung, die andere ihm entgegenbringen.«
Ihre leidvolle Duldermiene verwandelte sich in ein wissendes Lächeln. Ein Geschenk. Ein Geheimnis zwischen uns beiden. »Sie kennen ihn natürlich besser als ich. So sehr ich auch unter dem Verlust seiner Aufmerksamkeit leide, Sie haben schon recht – er ist es verdientermaßen gewöhnt, dass man ihn verehrt.«
»Ob verdientermaßen, weiß ich nicht. Aber sagen Sie mir, was bereitet Ihnen Kummer?«
»Ich habe heute Morgen die Zeitung gelesen«, gestand sie mir in einem gehauchten Flüsterton. »Das hat mich ... Ich war sehr schockiert, Mr. Wilde. Verängstigt.«
Wenn regelmäßig Kinder aus ihrem Freudenhaus geschafft wurden, von einem Mann mit schwarzer Kapuze, dem es Spaß machte, sie aufzuschneiden, dann konnte ich ihr das nachfühlen. Vor allem, falls sie selbst etwas damit zu tun hatte.
»Wovor hatten Sie denn Angst, Madam Marsh?«
Sie schürzte die Lippen und blinzelte mich mit fedrigen Wimpern an. »Was unsere Stadt betrifft, Mr. Wilde? Vor Aufständen. Chaos in den Straßen. Was die Iren und die Zukunft der Demokratischen Partei betrifft, die ich voll und ganz unterstütze? Vor einer Niederlage bei der nächsten Wahl natürlich. Oder vermuten Sie, dass meine Interessen persönlicherer Natur sind, da ich Ihnen einen Besuch abstatte, der für uns beide ein wenig unangenehm sein dürfte?«
Ein Bekenntnis, und sei es nur ein Teilbekenntnis, war ein mutiger Schachzug. Aber die Leute neigen dazu, mir alles Mögliche zu erzählen. Ich nahm einen Schluck von dem Tee, den sie mir eingeschenkt hatte, und versuchte das Gewicht der Stille einzuschätzen. Das ganze Gespräch über saß ich wie auf glühenden Kohlen, aber Silkie Marsh hatte offenbar irgendwo die Erfahrung gemacht, dass ihre Stimme überzeugender wirkte, wenn sie klar und kräftig klang. Bird konnte uns doch sicher dort oben hören. Ich flehte zu Gott, dass Bird uns hören konnte.
»Sie haben Kinder als Prostituierte angestellt. Ich bin mit Val und schlechten Nachrichten von Liam bei Ihnen aufgetaucht und habe zwei Ihrer Kinderprostituierten mitgenommen«, fasste ich für sie zusammen. »Und jetzt wollen Sie wissen, wie das alles geschehen konnte.«
Sie schüttelte energisch ihren blonden Kopf. »Das Vergangene ist mir herzlich egal. Ich will wissen, ob meine Schwestern, meine Angestellten, alle, die in meinem Haus wohnen, um ihr Leben bangen müssen.«
»Ich würde sagen, dass die Kinder, die das Unglück haben, unter Ihrem Dach zu wohnen, jetzt schon Angst genug um ihr Leben haben. So jammervoll dieses auch sein mag.«
Die blauen Ringe
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