Der Teufel von New York
sein.«
»Ah«, sagte er. »Ganz gewiss.«
Aber in New York sind kleine Zusammenrottungen in etwa so verbreitet wie Straßenschweine. Und sie sind kein Grund, das Haus zu verlassen, im Gegenteil. Als ich aus der Kathedrale trat, dachte ich darüber nach, ob so ein Gerücht mich unbewaffnet aus dem Bett getrieben hätte, bevor ich Polizist wurde. Ich brütete immer noch über der Frage und schämte mich ein wenig dafür, als ich in die Prince Street kam und Valentine Wilde begegnete.
Mein Bruder drehte beim Gehen den Kopf aufmerksam nach links und rechts, prüfte seine Umgebung, flankiert von Scales und Moses Dainty. Val war auf der Hut. Als er mich erblickte, stockte sein Schritt kaum merklich.
Das ist der Vorteil, den man als Bruder hat. Ganz egal, was für ein Kerl dein Bruder ist, du hast immer einen Trumpf in der Hand: Du kannst in ihm lesen. Leichter als in Fremden. Um die Wahrheit zu sagen, sogar leichter als in dir selbst. Er braucht nur zweimal mit seinen grünen Augen zu blinzeln, und schon weißt du, wie viel Morphium er genommen hat (reichlich, aber schon vor mindestens vier Stunden). Außerdem weißt du, in welcher Stimmung er ist (vorsichtig, auf Rückendeckung bedacht, aber bereit zu einer Prügelei, falls nötig). Du begreifst sofort, warum er hier ist (die Iren stellen so gut wie seine gesamte Wählerschaft, daher ist ihm daran gelegen, sie glauben zu machen, dass er sich gebeekerte Strabanzer sehr zu Herzen nimmt).
Dass du ihn kennst, bedeutet aber noch lange nicht, dass du ihn schonen musst.
»Tim!«, donnerte Val über die ganze Straße, in der es langsam hell wurde. »Was ist passiert? Prima, dass ich dich treffe, so kannst du mich aufklären, ich musste ...«
»Da ich dich kenne«, zischte ich, als ich näher kam, »und das nun schon mein ganzes Leben, hätte ich mir wirklich denken können, dass du Bird in die Fürsorgeanstalt schicken würdest, in dem Moment, da du erfährst, wo sie wohnt.«
»Tim ...«
»Nach all dem, was du in deinem Leben bislang angestellt hast,sollte es mich wohl nicht groß wundernehmen, dass du ein gepeinigtes kleines Mädchen an denselben Ort schickst, an dem du ausgepeitscht und in einen Kerker gesteckt wurdest.«
Er wurde still. Sein Schweigen war weder wütend noch finster. Sein Gesicht war einfach bewegungslos stumm. Es schien ein Bild von Val, wie er wirklich war: müde, lasterhaft, all dessen überdrüssig, und immer auf der Suche nach einer neuen Dosis Ablenkung. Und das störte mich.
»Schön, Timothy«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Was muss ich tun, damit du mit dem Blödsinn aufhörst? Wie bringe ich dich dazu, dass du merkst, dass du nur noch trüben Schlamm in der Birne hast?«
»Wenn deine Lösung des Problems, irgendeines Problems, darin besteht, dass du Kinder in die Fürsorgeanstalt schickst, dann will ich nichts mehr mit dir zu tun haben«, verkündete ich.
Und ich meinte es auch so.
»So ist es nicht«, sagte er langsam. »Aber du musst aufhören –«
»Geh mir aus dem Weg«, fuhr ich ihn an.
Es war mir egal, dass er groß war und ich nicht, es war mir egal, dass er in mehr Bereichen, als ich je zu zählen gewagt habe, besser war als ich, und es war mir egal, dass er sich mir in den Weg stellte.
Val ließ mich gehen. Die vollkommen sprachlosen Lakaien der Demokratischen Partei tauschten einen furchtsamen Blick. Ich wandte mein Gesicht der Salzluft zu und machte mich auf den Weg zum Hafen.
*
Mich mit Val zu streiten, fühlt sich für mich in etwa so an, wie mich zu rasieren oder eine Tasse Kaffee zu trinken. Aber nach der Begegnung eben standen mir die Haare zu Berge, und meine zuckenden Finger ballten sich zu Fäusten. Er hatte mir schon wegen weitaus geringfügigerer Dinge einen Kinnhaken versetzt, undals ich in Corlears Hook ankam, wo die Schiffsmasten dicht wie Unkraut standen, juckte es mir in den Fingern, mit irgendwem eine nette Keilerei anzufangen. Da mir offenbar gerade eine durch die Lappen gegangen war.
Der Bereich rund um Corlears Hook unten bei den Fährboothaltestellen gehört zum Siebten Bezirk, und ich beneide keinen, den es mit seinen Streifenrunden hierher verschlagen hat. Als ich ankam, wimmelte es an den Anlegestellen schon von Menschen jeden Schlages, der muntere Sommermorgen trocknete Salzkrusten in die flappenden Segel. Und die besondere Spezies der East-River-Dirnen, die sich unter die Bewohner von Brooklyn gemischt hatten, die täglich zur Arbeit nach Manhattan kommen, war bereits zum
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