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Der Teufel von New York

Der Teufel von New York

Titel: Der Teufel von New York Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lyndsay Faye
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gegangen.
    Sobald ich konnte, rappelte ich mich wieder auf, näher zu dem schmierigen Streifen Sonnenlicht hoch oben über der jämmerlichen Gasse.
    Ich war auf allen Seiten von Geistern umgeben.
    Sie hatten tiefe Löcher anstelle von Augenhöhlen – die braunen Augen lagen in wahren Hungergesichtern. Die verrottenden Lumpen, die an ihnen herunterhingen, mochten einmal Kleider gewesen sein – oder waren es nur Fetzen, wie sie die Geister in Bilderbüchern trugen? Aber Geister rochen nicht so, und ich hoffte, dass Geister auch nicht so von Schmerzen gezeichnet waren. Ich hätte nicht zu sagen vermocht, wie alt sie waren. Im Ganzen waren es etwa zwölf an der Zahl, Männer und Frauen. Alle so still und reglos, als seien sie längst tot und nicht erst auf dem Weg dorthin. Alle starrten mich an, als sei ich die Erscheinung, als wäre ich der Zaubergeist, und nicht sie.
    Ich begriff, dass sie aus den umstehenden Häusern gekommen waren. Sie waren alle schwarz. Und da erinnerte ich mich, wer am Ende der Cow Bay lebte. Wo nicht einmal die Iren einen Fuß hineinsetzen würden.
    »Sie sind Timothy Wilde«, sagte eine Frau.
    Ich versuchte zu antworten, musste mich aber gegen die Wand lehnen und nickte stattdessen.
    Sie warteten.
    »Wo«, krächzte ich, sobald ich konnte, »wo sind die anderen beiden Polizisten?«
    Ein Mann trat kopfschüttelnd vor mich hin. »Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit dieser Frage, Mr. Wilde. Ist alles in Ordnung?«
    Ich nickte, obwohl meine Kehle immer noch wie ein zerquetschtes Insekt unter meinen Fingern pulsierte. Der farbige Mann, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte, legte mir den Kupferstern in die Hand.
    »Ich werde keinen Gedanken mehr an sie verschwenden«, versprach ich.
    Meine Stimme war nicht viel besser als ein Stock, mit dem man Wörter in den Sand schreibt. Aber die Botschaft kam an.
    »Nun, Sie scheinen wohlauf zu sein, Mr. Wilde«, sagte der Mann, als die Gespenster sich, eins nach dem anderen, wieder verzupften. »Können wir sonst noch etwas tun?«
    »Ich danke Ihnen. Grüßen Sie Julius Carpenter von mir.«
    Die anderen Männer und Frauen drehten sich um und gingen langsam wieder zurück in ihre Häuser. Unter der dicken Schicht aus Hunger und Not schimmerte so etwas wie finstere Genugtuung durch.
    »Oh, das machen wir, falls wir ihn sehen, Mr. Wilde«, sagte er, bevor er selbst wieder in das Schattenland verschwand, aus dem sie gekommen waren.
    *
    Die Stichwunde war nur ein kleines Loch. Ich beschloss, ihr keine Aufmerksamkeit zu schenken. Während ich zum Eingang der Cow Bay zurückwankte, traf ich auf die zweite Gaunerbande dieses Abends.
    Alle Neune war mit einem bestimmten Ziel abgehauen, wie sich herausstellte. Giftzahn stand an der Spitze der Gruppe, einen Schlagstock lässig in der Hand, und die Narbe auf seiner Lippe zuckte wie eine Puppe im Kasperletheater. Hinter ihm kamen sechs weitere Jungs, darunter Zunder, Hohlauge und die kräftigsten Soldaten aus Das packende, schaurige und blutige Schauspiel der Schlacht von Agincourt. Ich war mehr als gerührt, sie zu sehen. Ich trieb die Herde meiner kleinen Bürgerwehr zurück auf die Straße und trat endlich wieder hinaus ins Sonnenlicht.
    »Da haben Sie aber ordentlich Kuffen bestiebt«, sagte Zunder besorgt. »Kriegen Sie keine Luft mehr?«
    »Mir geht’s gut.«
    »Warum sehn Sie dann so gebeutelt aus?«
    »So sieht ein Mann nun mal aus, wenn der eigene Bruder ein paar Schläger auf ihn hetzt, um ihn kapore zu machen.«
    Als ob er mich nicht gewarnt hätte , setzte ich im Kopf hinzu.
    Wir schleppten uns, in immer düsterer werdendes Schweigen versunken, zum Theater, gingen hinein und dann die Treppen hinunter zu der von Lampen erhellten Bühne. An diesem Abend wirkten die Schatten unnatürlich, zumindest kam es mir so vor. Die ganze Szene erschien mir wie eine Bühnenkulisse, gemalt von einem Kind, das mittendrin den Sinn für die Perspektive verloren hatte. Ich erinnerte mich mit einem dumpfen Pochen im Kopf daran, dass die Öffentlichkeit Marcas’ Leiche gesehen hatte und dass alles schon längst verloren war, was auch immer ich jetzt tun würde.
    Die restlichen Zeitungsverkäufer lümmelten sitzend oder liegend auf der Bühne herum. Mir fiel auf, dass sie einen neuen Arbeitstisch hatten, auf dem Papier, Zündschnüre und Päckchen mit Schießpulver herumlagen. Hopstill hatte die Zeitungsjungen also besucht. Und seine Besuche hatten noch nicht dazu geführt, dass sie sich die Gesichter weggesprengt hatten.

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