Der Teufel von New York
sagte ich. »Haben Sie sie zu einem Arzt gebracht? In eine Kirche, ein Krankenhaus? Sagen Sie mir, wo sie jetzt ist, und ich werde sie beerdigen. Wenn Sie noch länger warten, schaffe ich Sie erst in die Tombs, und dann lasse ich mir ein oder zwei Monate Zeit, über Ihre Bitte nachzudenken.«
Ich bin nie ein sonderlich geschickter Lügner gewesen, aber dieses Mal war ich wirklich mit dem Herzen dabei.
»Sie ist oben in einem Eisbad«, rief er prompt. »Ich hab’s versucht, hab’s so versucht. Aber sie war schon bewusstlos, als ...«
Den restlichen Satz hörte ich nicht mehr, denn ich war bereits auf der Treppe.
Als ich die Stufen hinaufrannte, erfassten meine Augen eine Fülle vertrauter Einzelheiten. Dutzende nutzloser Fakten über die Treppe der Underhills. Und in meinem neuen Beruf hält man auf reine Fakten große Stücke. Aber sie erzählen nicht die eigentliche Geschichte. Sie sind nur Anhaltspunkte, leere Grabsteine. Das habe ich durch meine Arbeit als Polizist gelernt, und zwar nicht von Bird Daly. Sondern von Mercy, die im Washington Square Park saß, nachdem sie den Vertreter einer verachteten Rasse mit Zähnen und Klauen verteidigt hatte, ganz so, wie ihre Mutter es getan hätte. Mercy sagte, mit Worten könne man Landkarten entwerfen, und damit meinte sie Folgendes:
Im Treppenaufgang der Underhills, gleich über der achten Stufe, gibt es einen sechs Zentimeter langen Kratzer in der bräunlichen Tapete. Er ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass ich im Alter von sechzehn Jahren dort saß, schweigend und unglücklich, obwohl ich gerade von einem herzhaften Abendessen aufgestanden war. Denn mein Bruder war seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen. Ich fürchtete, wie immer, er sei tot. Ich fürchtete, wie immer, er sei bei irgendeinem Brand umgekommen. Ich hatte Angst, allein zu bleiben. Also holte ich mein Messer aus der Tasche und rammte es in die Wand. Und das Nächste, woran ich mich erinnern kann, ist, dass Mercy sich mit einem Buch an den Fuß dieser Treppe stellte und sagte, sie werde jetzt ihrem Vater ein Gedicht von William Cullen Bryant laut vorlesen. Ihrem Vater, der sechs Meter weiter bei geöffneter Tür in seinem Studierzimmer saß. Und nicht auf der achten Stufe.
Fakten an sich sind nicht von Bedeutung.
Sondern die Menschen. Ihre Geschichte und ihre guten Taten. Laut Mercy – und inzwischen verstand ich sie besser – ist nur die Geschichte von Bedeutung.
Die Tatsachen waren die folgenden:
Am Ende der Treppe gleich rechts befand sich Mercys Schlafzimmer. Ich ging hinein. Es war alles in einem fröhlichen, sauberen Blau ausgestattet. Aber all die Bücher aus den Regalen, Hunderte von Bänden, lagen auf dem Boden. Bücher, deren Rücken gebrochen waren, weil sie zu leidenschaftlich geliebt worden waren, Bücher, deren Umschläge regelmäßig abgestaubt worden waren, Bücher, die man ein zweites Mal gekauft hatte, weil das erste Exemplar schon zerfallen war. Der Kleiderschrank stand offen. Er war leer, die Kleider befanden sich, wie ich wusste, unten und waren in keinem nennenswerten Zustand mehr.
Mercy hatte bis vor kurzem in einer Wanne voller Eis gelegen. Diese Tatsache werde ich nie für unbedeutend halten. Aber sie hatte sich irgendwie aus den groben Eisstücken herausgekämpft.Sie lag jetzt auf den Bodendielen, trotz der Tatsache, dass ihre Knöchel mit einem Stück von dem gleichen Hanfseil, das ich unten gesehen hatte, zusammengebunden waren. Und trotz der Tatsache, dass man sie in einen Morgenmantel gewickelt, die Arme in die langen Ärmel gesteckt und die leeren Enden wie bei einer Zwangsjacke im Rücken zusammengeknotet hatte.
Ihre Lippen waren blau, und die Oberlippe immer noch leicht über die Unterlippe geschoben. Ihr Gesicht schien wie aus Elfenbein geschnitzt. Ich hätte fast gesagt, dass selbst ihre Augenfarbe verblasst war. Aber dem war nicht so. Es ist nur so, dass eine blaue Iris vor einem weißen Hintergrund anders aussieht als vor einem blassroten. Und das Weiße in Mercys Augen war vor Anstrengung und Erschöpfung so rot unterlaufen, dass sie fast nicht wiederzuerkennen gewesen wären. Zumindest für jemand anderen.
Das waren die Fakten.
Aber die Geschichte geht so:
Mercy Underhill atmete noch. Ich konnte es sehen, jeden einzelnen Atemzug, während ich durchs Zimmer fegte, um etwas zu finden, womit ich sie trocken bekommen könnte. Und warm. Es war ein bisschen so, wie wenn man ein Kind hinfallen sieht. Wenn es sich sehr wehgetan hat und, innerlich
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