Der Teufelsfürst
noch ihre Großmutter vorhatten, die Osterbeichte abzulegen, war Sophia die Einzige in ihrer Familie, die – wie zahllose andere Ulmer – den Weg zum Münster einschlug. Lange Zeit hatte sie den Gang zum Beichtstuhl vor sich hergeschoben, doch am heutigen Gründonnerstag blieb ihr keine andere Wahl mehr. Denn auf keinen Fall wollte sie das Osterfest ungereinigt begehen. Aber auch wenn sie sich danach sehnte, endlich ihr Gewissen zu erleichtern, graute ihr vor dem Moment, in dem sie dem Priester ihr Herz öffnen musste. Sie merkte kaum, dass der Regen nachließ und schließlich ganz aufhörte. Was, wenn er ihr nicht glaubte und sie für eine Lügnerin hielt? Was, wenn das, was sie vermeintlich gehört hatte, eine ganz andere, harmlose Bedeutung hatte?
Und was, wenn das Schicksal der anderen Katzensteiner tatsächlich etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass ihr Stammvater in Sünde gezeugt worden war? So viele Fragen, aber keine befriedigende Antwort. War das Hexenmal des Mädchens nicht eigentlich auch ohne die Aussage des Baders Beweis genug für seine Schuld? Eine Bewegung in ihrem Augenwinkel lenkte sie von den düsteren Gedanken ab. Links von ihr erklomm eine schwankende Gestalt die Bühne für die Passionsspiele und begann, am Latz ihrer Hose herumzunesteln.
Kurze Zeit später erklang das unverwechselbare Geräusch plätschernden Urins, dem ein lauter Furz folgte. »Komm runter, Laurenz!«, lallte jemand. »Du bist noch nicht dran.« Diese Feststellung schien so komisch, dass mehrere – offensichtlich betrunkene Männer – sie mit grölendem Gelächter quittierten. Sophia schüttelte den Kopf. War den Kerlen denn gar nichts heilig? Nachdem am heutigen Gründonnerstag die Pilatus-und Judenszene aufgeführt worden war, würde die morgige Darstellung der Höllenfahrt und der Teufelsszene sicherlich zu derben Ausschweifungen führen. Davor hatte jedenfalls die Köchin ihres Vaters gewarnt. »Haltet Euch nur fern vom Münsterplatz«, hatte sie Sophia geraten. »Da ist man seines Lebens nicht mehr sicher.«
Vier weitere Männer schwangen sich auf die Bühne, um ihren Kameraden an Armen und Beinen zu packen und wild hin und her zu schwingen. Als dieser lautstark protestierte, ließen sie ihn mitten in der Luft los, sodass er ein gutes Stück flog, ehe er mit einem dumpfen Laut auf dem Boden aufprallte. Prustend und lachend sprangen die anderen ihm hinterher, und schon bald rauften die Kerle sich wie ein paar streunende Hunde. »Eine Schande ist es«, schimpfte eine Frau in der Schlange, die inzwischen das Portal erreicht hatte.
»Und das in der Nacht, in der unser Herr verraten wurde!«
Sophia griff nach dem Rosenkranz an ihrem Gürtel und betastete die Perlen, während sie erneut in dumpfes Brüten versank. War es eine Sünde zu schweigen oder war es eine Sünde, einen Verdacht zu äußern, den sie durch nichts untermauern konnte? Wurde sie durch ihr Nichtstun mitschuldig am Unglück der jungen Frau, die als Hexe verurteilt worden war?
Hätte sie all das nicht schon längst einem Beichtvater anvertrauen müssen? Sie presste die Lippen aufeinander und grübelte weiter. Seit über drei Wochen wälzte sie nun schon die gleichen Probleme in ihrem Kopf hin und her – ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Helwig, den Bader, die rätselhafte Urkunde und den Besuch bei dem Prokurator, der sie vermuten ließ, dass ihre Großmutter einen teuflischen Plan ausheckte.
Wenn sie doch nur wüsste, was die alte Frau vorhatte! Bevor sich ihre Gedanken weiter im Kreis drehen konnten, kam Bewegung in die Gläubigen. Und schneller, als ihr lieb war, fand Sophia sich bei einem Beichtstuhl wieder. Vor dem Altar, von dem am vergangenen Abend das Hungertuch abgenommen worden war, beugte sie das Knie und sprach ein kurzes Gebet.
Dann öffnete sie mit zitternden Händen den Vorhang des Beichtstuhls, kniete nieder und machte das Kreuzzeichen. Einige Zeit lang wartete sie im Halbdunkel, bis endlich das Knarren von Holz die Anwesenheit des Priesters verkündete.
»Vater, vergib mir, denn ich habe gesündigt«, murmelte sie.
»Meine Tochter, ich höre deine Worte. Gestehe, bereue und tue Buße, dann werden dir deine Sünden vergeben«, antwortete ihr Gegenüber, das durch ein dünnes Holzgitter von ihr getrennt war. Sophia schluckte. Plötzlich schien ihr Kopf wie leer gefegt, ihr Mund trocken und ihre Zunge schwer wie Blei. »Meine Tochter?«, fragte der Pater nach. »Was sind deine Sünden?« »Ich war ungehorsam und habe meinen
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