Der Teufelsfürst
Wenig später fand sie sich in einem muffigen Kabuff wieder, das mehr einem Bretterverschlag als einem Raum glich. In einer Ecke lagen klumpige Strohsäcke, und in einem schiefen Halter an der Wand steckte ein brennender Kerzenstummel. Aber dennoch war diese Unterkunft wesentlich besser als die kleinen, zum Teil löchrigen Zelte, in denen die Ärmsten der Sinti hausten. Sie seufzte.
Wenn sie doch nur wieder in ihrer eigenen Kammer in Ulm sein könnte! Sie schob die Erinnerung an den kleinen, aber gemütlichen Raum mit aller Macht beiseite. Trotzdem kehrten mit diesem winzigen Fragment ihres alten Lebens, Düsterkeit und Wehmut zurück. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, griff unvermittelt Kummer nach ihrem Herzen. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Die Tränen, die so lange versiegt waren, brachten ihre Augen innerhalb weniger Minuten zum Überlaufen; und ein Schluchzen schnürte ihr die Kehle zu. Weinend kauerte sie sich an der Wand zusammen, während sich ein Schmerz in ihr ausbreitete, der sie zu zerreißen drohte. Mit grausamer Gewalt walzte dieser alle Barrieren nieder, welche sie zu ihrem eigenen Schutz errichtet hatte. Die toten Augen ihres Vaters glotzten sie genauso aus ihrem Gedächtnis an, wie ihr die hasserfüllten Blicke der Ulmer folgten.
Kälte, Demütigung und das Gefühl, nie wieder ein ganzer Mensch sein zu können, ließen sie den Stoff ihres Ärmels zwischen die Zähne schieben, damit sie ihrer Qual nicht lauthals Luft machte. Lange Zeit rannen die Tränen in breiten Bächen ihre Wangen hinab. Doch schließlich legte sich der Aufruhr und Taubheit breitete sich in ihr aus. Erschöpft und zitternd lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Wand und fuhr sich mit den Handflächen über das nasse Gesicht. Sie durfte nicht aufgeben! Sie musste stark sein und auf Gott vertrauen! Hatte dieser ihr nicht durch die Rettung aus der Donau bereits ein Zeichen seiner Gnade gesandt? War sie nicht wie durch ein Wunder den Wegelagerern entkommen? Könnte ihre Lage nicht weitaus aussichtsloser sein? Sie presste die Handflächen aneinander und flüsterte: »Herr, vergib mir meine Zweifel. Nimm hinweg meine Sünde und erbarme dich meiner Seele.«
Auch wenn es nur ein kurzes Gebet war, kehrte damit ein Teil ihrer Kraft zurück. Sie musste den Brief an Utz schreiben, bevor die anderen Frauen kamen! Die Sorge um ihren Bruder ließ erneut Tränen in ihren Augen aufsteigen. Was, wenn Utz tatsächlich in Gefahr schwebte? Was, wenn der Mörder ihres Vaters seiner inzwischen habhaft geworden war? Sie schluchzte wieder erstickt auf, biss jedoch sofort heftig die Zähne aufeinander. Nein!, schrie es in ihrem Kopf. Das konnte nicht sein!
Utz war ihre einzige Hoffnung. Er durfte einfach nicht in Gefahr sein! Wer auch immer ihren Vater vergiftet hatte, musste es getan haben, um dafür zu sorgen, dass er nicht in den Rat der Stadt gewählt wurde. Sie wischte ein weiteres Mal die Tränen fort. So etwas war schließlich schon häufiger vorgekommen! Sie durfte sich nicht die letzte Hoffnung rauben lassen, vor allem nicht jetzt, wo die Zeit drängte! Obwohl sie immer noch am ganzen Körper bebte, gelang es ihr nach einigem Nesteln, das Blatt Papier aus ihren Röcken zu befreien und eine Nachricht an ihren Bruder zu verfassen. Als sie damit fertig war, langte sie nach dem Kerzenstummel und versiegelte den Brief notdürftig. Jetzt musste es ihr nur noch gelingen, ihn unter die übrige Korrespondenz des Herzogs zu mischen, ohne dass dieser etwas bemerkte. Der Vorsatz half ihr, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Wie genau sie es anfangen wollte, war ihr zwar noch nicht ganz klar. Aber es würde sich ganz gewiss ein Weg finden lassen.
Kapitel 30
Ulm, Bürgerwiese, April 1447
»Was tust du denn da?« Utz’ Stimme überschlug sich vor Ärger, als er einen der Lehrlinge zurückpfiff. »Siehst du denn nicht, dass es bald wieder anfängt zu regnen? Das wird doch alles nass!« Er kniff die Augen zusammen und massierte die Lider mit dem Daumen und dem Zeigefinger seiner rechten Hand. Der Kopfschmerz, der seit beinahe zwei Wochen sein ständiger Begleiter war, trieb ihn allmählich in den Wahnsinn. Mit einem leisen Stöhnen ließ er die Hand wieder fallen.
Er blinzelte irritiert, da der Druck auf seine Augen den dumpfen Schmerz nur noch verstärkt hatte. Ein heftiger Ostwind jagte schwarze Wolken über den Himmel. Das seltsam kupferfarbene Licht ließ die Farben der Bürgerwiese fremd und unwirklich erscheinen. Hie und da
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