Der Thron der roten Königin
alle anderen sind Fremde. Sie sprechen Walisisch und starren mich an, wenn ich sie um einen Schluck Milch, ein Glas Dünnbier oder einen Krug Wasser zum Waschen bitte. Ich sehne mich so sehr nach einem freundlichen, vertrauten Gesicht, dass ich mich sogar freuen würde, den Pferdeknecht Wat zu sehen.
Die Burg steht in einer gottverlassenen Gegend, um mich herum nur hohe Berge und Himmel. Schon eine halbe Stunde bevor sie sich über den grauen Schieferdächern und den vom Regen gestreiften Mauern öffnen, kann ich die Regenwolken wie einen nassen Vorhang näher kommen sehen. Die Kapelle ist ein kaltes, heruntergekommenes Gebäude, und der Priester zollt mir keine Aufmerksamkeit; er bemerkt meine außergewöhnliche Frömmigkeit nicht einmal. Ich gehe oft in die Kapelle, um zu beten, dann fällt das Licht durch das Westfenster auf meinen gesenkten Kopf, doch niemand bemerkt es. London ist eine beschwerliche Reise von neun Tagen entfernt, genauso weit wie mein altes Zuhause. Ein Brief von meiner Mutter ist bis zu zehn Tagen unterwegs, doch sie schreibt nur selten. Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich vom Schlachtfeld entführt worden und würde gegen Lösegeld in Feindesland festgehalten wie mein Vater. Fremder und einsamer als ich kann man sich nicht fühlen.
Das Schlimmste ist, dass ich seit meiner Hochzeitsnacht keine einzige Vision mehr hatte. Ich verbringe ganze Nachmittage auf den Knien; ich schließe die Tür zu meinem Privatgemach und tue, als würde ich nähen. Aber mir erscheint nichts. Keine Vision vom Scheiterhaufen oder von den Schlachten, nicht einmal ein flatterndes Banner mit Engeln und Lilien. Ich bitte die Jungfrau Maria um eine Vision von Johanna von Orléans, doch sie gewährt sie mir nicht, und wenn ich schließlich auf die Fersen zurückfalle, fürchte ich, dass ich nur als Jungfrau heilig war. Als Gemahlin bin ich nichts Besonderes.
Nichts auf der Welt kann mich für diesen Verlust entschädigen. Ich wurde in dem Wissen erzogen, die Tochter eines großen Mannes und Erbin der königlichen Familie zu sein, doch meine Herrlichkeit lag in dem Wissen, dass Gott zu mir sprach, ganz unmittelbar, und dass er mir die Vision der Jungfrau von Orléans schickte. Er schickte mir einen Engel in der Verkleidung eines Bettlers, um mir alles über sie zu erzählen. Er ernannte William de la Pole zu meinem Vormund, damit er – der Johanna mit eigenen Augen gesehen hat – dieselbe Heiligkeit in mir erkennen konnte. Doch dann hat Gott diesen vernünftigen Plan aus irgendeinem Grund vergessen und mich in den Gewahrsam eines Gemahls gegeben, der nicht das geringste Interesse an meiner Heiligkeit bekundet und mir – in einer einzigen schrecklichen Nacht, in der er die Ehe grob vollzieht – meine Jungfräulichkeit ebenso raubt wie meine Visionen. Warum Gott mich auserwählt und dann missachtet hat, vermag ich nicht zu verstehen. Es ist nicht an mir, den Willen Gottes zu hinterfragen, dennoch frage ich mich: Warum hat er mich auserwählt, um mich hier in Wales zu verlassen? Wäre es nicht Gott, würde man denken, die Sache sei sehr schlecht geplant. Schließlich ist es nicht so, als könnte ich hier irgendetwas tun, und bestimmt betrachtet mich niemand als lebendiges Licht. Es ist noch schlimmer als in Bletsoe, wo sich die Leute wenigstens über meine übertriebene Heiligkeit beschwert haben. Hier bemerken sie sie nicht einmal. Ich fürchte, mein Licht steht hier unter dem Scheffel, und ich kann gar nichts tun, um mich der Welt als Leuchtfeuer zu zeigen.
Ich nehme an, mein Gemahl ist gut aussehend und tapfer. Tagsüber sehe ich ihn und seinen Bruder kaum, da sie immer ausreiten, um den Frieden des Königs gegen ein Dutzend kleinerer Aufstände in der Gegend zu verteidigen. Edmund übernimmt die Führung; Jasper, sein Bruder, folgt ihm wie ein Schatten. Sie gehen sogar im Gleichschritt – Edmund geht mit großen Schritten voran, Jasper folgt ihm auf den Fersen. Sie sind nur ein Jahr auseinander. Als ich sie das erste Mal sah, dachte ich, sie seien Zwillinge. Sie haben dasselbe unselige fuchsrote Haar und lange dünne Nasen. Noch sind sie groß und schlank, aber ich glaube, später werden sie Fett ansetzen, und zwar recht bald. Wenn sie sprechen, kann der eine die Sätze des anderen beenden, und sie lachen dauernd über Witze, die nur sie allein komisch finden. Sie sprechen kaum mit mir, und sie erklären mir nie, was so komisch sein soll. Waffen sind ihre größte Leidenschaft, und sie können sich einen ganzen
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