Der Thron der Welt
kümmerte sich nicht weiter um sie, band ein paar Umhänge an seinen Gürtel und die übrigen um den Hals seines Hundes. Dann zog er aus seiner Tasche ein Behältnis mit einer Mixtur aus Moschus und Rizinus. Mit dieser übelriechenden Schmiere bestrich er seine Schuhe. Das Bellen und die Rufe kamen näher.
Der nächste Abschnitt des Walls verlief schnurgerade. Wayland ließ sich auf der Südseite in den Graben hinunter und verfiel in leichten Trab. Der Hund hielt genau Schritt. Sie zogen an einem Meilenkastell vorbei, das nächste ragte vor ihnen auf wie ein fauler Backenzahn. Wayland stieg den halbzerfallenen Turm hinauf und legte sich mit dem Gesicht in die Richtung, aus der er gekommen war, auf den Boden. Seine Atmung beruhigte sich. Auf einen Stein neben ihm hatte ein gelangweilter oder heimwehkranker Legionär eine Gebet oder eine Obszönität oder eine Liebeserklärung gekratzt. Eine Lerche jubilierte so weit über ihm im weiten Blau, dass Wayland sie nicht sehen konnte – sie singt vor den Toren des Himmels, hätte seine Mutter gesagt.
Als Wayland vom Turm hinabspähte, sah er in einiger Entfernung zu beiden Seiten des Walls wie schwarze Punkte Reiter in der Landschaft. Einen, zwei, drei. Sie verschwanden in einer Niederung, und neue tauchten auf. Als keine Reiter mehr nachkamen, hatte Wayland dreizehn gezählt und zusätzlich vier Jagdhunde.
Die Hunde hielten an der Stelle, an der die Flüchtlinge vom Wall abgebogen waren, und schnupperten am Boden. Einer rannte auf die Schafweide, doch die anderen folgten ihm nicht. Ihr Gebell wurde lauter. Ein Soldat trieb den Hund von der Schafweide mit einem Peitschenhieb zurück zu den anderen. Die Meute zog weiter.
Wayland stieg schnell vom Turm. Vor ihm teilte sich der Weg, eine breite Karrenspur führte in ebeneres Gelände Richtung Süden, der Wall dagegen beschrieb eine Spitzkehre um eine Felswand mit steilem Abhang an der Nordseite. Ein mit Seen durchsetztes Moorgebiet zog sich bis zu einem Wald mit alten Kiefern hinauf. Vor Jahren war Wayland mit seinem Vater in diesem Wald gewesen, und sie hatten gemeinsam an genau jener Stelle gestanden.
«Siehst du diese Bäume da vorn», hatte sein Vater gesagt. «Das sind kühne Krieger, die Odin bei ihrem Vormarsch dort festgebannt hat, indem er einen Blitz auf sie schleuderte.»
«Unsere Mutter sagt, Odin und all die anderen Götter gibt es nicht», hatte er widersprochen. «Sie sagt, es gibt nur einen Gott, und sein Sohn ist Jesus Christus, das Licht der Welt.»
Sein Vater hatte ihm das Haar zerzaust. «Jesus hat mit seinem Licht noch nicht überall hingeleuchtet. Aber erzähl deiner Mutter nicht, dass du das von mir gehört hast, sonst versagt sie mir einen Monat lang alle Freuden.»
Wayland überprüfte die Knoten, mit denen er die Umhänge der anderen befestigt hatte. Dann folgte er dem Anstieg des Walls. Als er den ersten Steilhang erreicht hatte, kletterte er an einer Stelle abwärts, an der ihm kein Pferd folgen konnte, und bewegte sich schnell weiter Richtung Norden, wobei er versuchte, sich unterhalb der Sichtlinie zu halten. Die Landschaft wurde rauer, holprige Wiesen und Wollgras wurden von Heide und weichen Moosteppichen abgelöst. Graubraune Vögel flogen vor ihm auf.
Als er die Baumgrenze erreicht hatte, blickte er zurück. Die Kette der Reiter bewegte sich den Steilhang hinauf, und an der Richtung, die sie einschlugen, erkannte Wayland, dass sie seinen Fluchtweg entdeckt hatten. Er hastete in den Wald.
Erst hier würde es ihn größere Anstrengung kosten, seinen Plan umzusetzen. Er wollte eine so große Entfernung zwischen die Verfolger und die Flüchtlinge legen, dass die Soldaten einen weiteren Tag brauchen würden, um ihren Nachteil wieder wettzumachen. Wayland fing an zu laufen, und sein Verstand schaltete sich ab. Er nahm nur noch seine Füße wahr, die über den Grund flogen, die Bäume, die er hinter sich ließ, und die Sonne, die zwischen den hohen, dunklen Baumkronen hindurchblitzte. Als er aus dem Wald kam, hatte er ein einsames Moor vor sich, und er rannte weiter. Auf einem Hügelkamm angekommen, sah er weit hinter sich zwei Männer auf zotteligen Ponys, die sich in den Steigbügeln aufgestellt hatten, um besser nach ihm Ausschau halten zu können. Als er den nächsten Hügelrücken überquerte, beobachteten sie ihn immer noch. Vielleicht fragten sie sich, ob dieser rennende Mann und sein riesenhafter Hund aus Fleisch und Blut waren oder eine Erscheinung aus mythischer
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