Der tibetische Agent: Shan ermitteltRoman (German Edition)
sich dann flink ans Werk, ließ sich ganz von seinen alten Instinkten leiten. Er wusste aus Erfahrung, dass solche Offiziere die Wahrheit derartiger Morde auf seltsame Weise verdrehen konnten, so dass unbequeme Verbrechen sich einfach in Luft auflösten. Und schlimmer noch, sie konnten Morde an einem heiligen Ort wie diesem als Vorwand benutzen, um auch noch die Überreste der Gebäude dem Erdboden gleichzumachen. Shan war es Jamyang, Lokesh und all den alten Tibetern schuldig, zu ergründen, was sich hier ereignet hatte.
Er strich mit den Fingern über das tote Fleisch, hob Gliedmaßen an, prüfte die Totenstarre und Körpertemperatur. Die Leute mussten seit vier oder fünf Stunden tot sein. Er beugte sich über den Gesichtslosen und biss bei dem Anblick die Zähne zusammen. Man hatte ihm das Gesicht nicht einfach abgeschnitten, sondern die Haut und das Fleisch vom Knochen gehackt, als würde man einen Baumstamm entrinden.
In den Taschen des Mannes mit dem fast vollständig abgetrennten Kopf fanden sich lediglich ein Wagenschlüssel und eine Schachtel filterlose Zigaretten. Eine Tätowierung auf der Innenseite seines Unterarms zeigte einen Vogel, eventuell eine Krähe, der eine Schlange in den Fängen hielt. Durch die brutalen Hiebe, die ihn beinahe geköpft hatten, war eine weitere Tätowierung im Nacken zerteilt worden: ein Geschöpf mit Schuppen, womöglich ein Drache. Shan bemerkte nun die Schmutzkruste an den Absätzen der teuren Schuhe und bückte sich, um die von ihnen hinterlassene Schleifspur zu betrachten, die weitgehend von den Polizeistiefeln zertrampelt worden war. Man hatte den Mann aus dem vorderen Teil des Geländes hergezerrt, vielleicht sogar direkt vom Tor. Shan hob einen der Schuhe an, die auf der Toten lagen, um sich den Schmutz genauer anzusehen, spürte etwas am Knöchel und schob das Hosenbein hoch. Überrascht hielt er inne. Er hatte schon seit Jahren kein Knöchelholster mehr gesehen. Außerhalb der großen Städte im Osten war ein so subtiles, verstecktes Ding eine echte Seltenheit. In Tibet machte man aus dem Einsatz von Schusswaffen kein großes Geheimnis. In dem Holster steckte keine Waffe, sondern tief unten nur ein gefaltetes Stück Papier. Shan vergewisserte sich, dass die Beamten immer noch außer Sicht waren, und verstaute das Papier in seiner Tasche. Er stand auf, beugte sich erneut über den Leichnam und schob die Finger tiefer in dessen Taschen. Als er die halb leere Zigarettenschachtel betastete, spürte er eine feste, unnachgiebige Oberfläche. Ein Stück Metall rutschte heraus, ein kunstvoll gearbeitetes Trapez mit eingeritzten buddhistischen Gebeten rund um zwei große Löcher im schmalen Ende. Ein Feuereisen. Der tote Chinese mit der teuren Kleidung trug ein primitives tibetisches Werkzeug zum Feueranzünden bei sich.
Shan steckte das Feuereisen zurück an seinen Platz und sah sich dann die beiden Hände im Zentrum der Flagge genaueran. Sie wurden nicht durch einen Stein am Boden gehalten, sondern durch ein verwittertes Trümmerteil aus den Ruinen. Darin war ein Bild eingemeißelt, eines der acht Glückszeichen. Shan bückte sich und erkannte Stoffgirlanden. Es war das Siegesbanner und pries den Triumph der buddhistischen Weisheit über die Ignoranz.
Dann widmete Shan sich zögernd der Frau. Er wusste, dass ihm wahrscheinlich nicht mehr als eine Minute bis zur Rückkehr der Kriecher blieb. Die Tibeterin schien Mitte fünfzig gewesen zu sein, mit zierlichem Antlitz, obwohl ihr verschlissener brauner Kittel und die rauen Hände die einer Bäuerin waren. Ihr dünner Halsschmuck war zerrissen, vermutlich als der Täter sie über den Boden geschleift hatte. Shan schloss ihr mit zwei Fingern sanft die blicklosen Augen und murmelte ein Gebet.
Das Loch über ihrem Herzen war nicht zu übersehen. Es handelte sich um eine große, hässliche Austrittswunde. Der Frau war demnach tatsächlich in den Rücken geschossen worden. Das Projektil hatte beim Austritt rote und weiße Stofffasern mit herausgerissen. Shan schaute genauer nach und stellte fest, dass ihre Brust unter dem Kittel mit einem Baumwollstreifen umwickelt war. Ein kleines steifes Rechteck in der Größe einer Ausweiskarte ragte darunter hervor. Mit einem Anflug von Schuldgefühl hob Shan den Stoff an, zog das Rechteck heraus und steckte es schnell ein, ohne einen Blick darauf zu werfen. Falls die Behörden die Identität eines tibetischen Opfers herausfanden, konnten sie den Angehörigen das Leben überaus
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